Einige Gedanken aus Anlass des Falles Trinh Xuan Thanh
Hoang Xuan Phu
Deutsche Übersetzung von Anke Friedel-Nguyen
Nach
zehntägigen Ermittlungen und
reiflicher Abwägung veröffentlichte das Auswärtige Amt der
Bundesrepublik Deutschland am 2.8.2017 eine Pressemitteilung,
in der konstatiert wird:
"Die
Entführung des vietnamesischen Staatsangehörigen Trinh Xuan Thanh auf deutschem
Boden ist ein präzedenzloser und eklatanter Verstoß gegen deutsches Recht und
gegen das Völkerrecht."
"Die
Bundesregierung verlangt, dass Herr Trinh Xuan Thanh unverzüglich nach
Deutschland zurückreisen kann, damit der Antrag auf Auslieferung und der Antrag
auf Asyl jeweils in einem rechtstaatlichen Verfahren zu Ende geprüft werden
können."
Am
darauffolgenden Nachmittag, den 3.8.2017, sagte die Sprecherin
des vietnamesischen Außenministeriums, Frau Lê Thị Thu Hằng:
"In
Bezug auf die Verlautbarungen des Auswärtigen Amtes der BRD um den Fall Trịnh
Xuân Thanh bedaure ich die Aussagen von dessen Sprecher vom 2. August."
Ja,
ein "Bedauern" über "die Aussagen des Sprechers des
Auswärtigen Amtes". Als sei sie darüber beleidigt, dass
die Verlautbarungen von deutscher Seite falsch oder unangemessen wären. Auf die
Frage eines Journalisten: "Bestätigt Vietnam den Vorwurf, Trịnh Xuân
Thanh entführt zu haben?", zitiert Frau Hằng:
"Nach
der Mitteilung des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit von Vietnam vom 31. Juli
hat sich Herr Trịnh Xuân Thanh den Behörden gestellt und ein Geständnis
abgelegt."
Das
heißt, die Machthaber in Hanoi weisen den Vorwurf der deutschen Seite, Trịnh
Xuân Thanh (TXT) entführt zu haben, nicht direkt zurück (denn "hat sich
gestellt und ein Geständnis abgelegt" bedeutet ja nicht, dass er
vorher nicht entführt worden wäre). Aber er wird auch nicht öffentlich
bestätigt, und es gibt keine offiziellen Meinungsäußerungen zu diesem Vorwurf
aus Deutschland. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass der deutsche Außenminister Sigmar
Gabriel (in einem in den Stuttgarter Nachrichten vom 6.8.2017 abgedruckten
Interview) betonte:
"Das
Verhalten der vietnamesischen Geheimdienste auf deutschem Boden ist vollkommen
inakzeptabel. Ich möchte in aller Deutlichkeit sagen: So etwas tolerieren wir
unter keinen Umständen. Und werden das auch so nicht stehen lassen."
Während die Machthaber in Hanoi sich in
Schweigen hüllen, erhitzen sich die vietnamesischen Gemüter in der virtuellen
Welt. Die einen kritisieren die Regierung in Hanoi, andere äußern ihre
Übereinstimmung mit dieser. Die Übereinstimmung gründet sich auf dem
wahrhaftigen Glauben, dass die Entführung von TXT (sofern sie erfolgt ist) für
den Kampf gegen die Korruption notwendig war. Und dass der Antrieb für die
Erteilung des Befehls zur Entführung von TXT lediglich in der strengen
Bestrafung eines korrupten Mannes lag. Wie steht es aber mit der Rechtmäßigkeit
der Entführung? "Der Zweck heiligt die Mittel." Und im
übrigen: "in der ganzen Welt" wird das gemacht. Es ist doch
so: Will man einen eindrucksvollen Beweis dafür liefern, dass die Entführung
von Personen aus dem Ausland durch den Staat zu redlichen Zwecken eine
internationale Gepflogenheit ist, und will die entsprechenden Fälle an den
Fingern abzählen, so wird man nur wenige Finger in die Luft recken können. Die
restlichen Finger werden unschlüssig gekrümmt ins Nirgendwo verweisen.
Es lohnt sich, zu erörtern, warum "ein
nicht geringer Teil" der Bevölkerung die deutsche Reaktion heftig
kritisiert. Man glaubt, die vietnamesische Seite handele richtig so, und die
deutschen Äußerungen seien demnach falsch. Es geht so weit, dass man meint, "die Deutschen ... tolerieren
und unterhalten einen Verbrecher wie Trịnh Xuân Thanh", und
"die verlogene Moral der
Berliner Machthaber" anklagt. Schwere Vorwürfe
dieser Art werden nicht nur auf persönlichen Webseiten veröffentlicht, sondern
auch in staatlichen Zeitungen, wie zum Beispiel im Artikel "Der Fall der Rückkehr und des
Geständnisses von Trịnh Xuân Thanh: Handelt das Auswärtige Amt der BRD voreilig,
oder ist es auf Stimmenfang?" – veröffentlicht
am 18.08.2017 in der Wochenzeitung Văn nghệ (Literatur und Kunst) des
Dachverbandes der Verbände für Literatur und Kunst Ho-Chi-Minh-Stadt.
Das Rechtsverständnis „rückständiger Gegenden“
und das deutsche Rechtsverständnis sind wahrhaftig schwer in
Übereinstimmung zu bringen. Wenn man das ganze Leben unter dem Gesetz
des Dschungels verbracht und sich an das wilde Benehmen der einheimischen
Herrscher gewöhnt hat, dann muss man dieses Vorgehen als naturgemäß empfinden. Und
demnach ist das befremdliche, prinzipienfeste Rechtsverständnis „des Westens“
schwer nachzuvollziehen. Das ist so ähnlich, als wenn ein Junge vom Dorf,
der es gewohnt ist, bei seinen Streifzügen durch den Wald mit den Bäumen, die
ihm im Wege stehen, kurzen Prozess zu machen, und der sich nun in eine Stadt
verirrt, sich über die Verkehrsampeln beklagt, da er meint, dass sie den
Verkehr behindern.
Würden diese Ansichten nur das Denken der
einfachen Volksmasse widerspiegeln, so hätten wir ihre Meinungs- bzw.
Pressefreiheit zu respektieren. Unter diesen Ansichten finden sich aber auch solche von Rechtsanwälten. Mit
scheinbar sehr soliden rechtlichen Argumentationen, die aber leider falsch sind.
Aus diesem Grunde schreibe ich diesen Aufsatz, um einen Austausch in Gang zu
setzen in der Hoffnung, einige rechtliche Grundlagen dieser Angelegenheit
deutlich zu machen und so ein besseres Verständnis und ein angemesseneres
Vorgehen zu befördern.
Der folgende Aufsatz gliedert sich in 5 Teile.
Teil I, mit dem Titel "Machtbegrenzung
im Rechtsstaat", beschreibt 3 besondere Fälle, die sich in Deutschland
ereignet haben. Diese illustrieren die Begrenzung der Macht der höchsten
Staatsorgane (I.1. Der Prozess zum Verbot der NPD), die Machtbegrenzung der
Staatsbeamten (I.2. Prozess Daschner), und die Schwierigkeiten, die ein
Auslieferungsantrag mit sich bringen kann (I.3. Prozess Haikel S.), in einem
tatsächlichen Rechtsstaat. Anhand dieser Fälle lässt sich erkennen, dass die
Behörden in Deutschland (sei es auch auf höchster Ebene) nicht tun und lassen
können, was sie wollen, sondern dass sie sich streng an die gesetzlichen
Regelungen halten müssen. Auf diese Weise können wir verstehen und
nachvollziehen, warum die deutsche Seite das Auslieferungsbegehren gegen TXT
mit solcher Vorsicht behandelt. Darüber hinaus möchten wir einige psychologische
Effekte erreichen, die in Teil I.4. beschrieben werden.
Teil II, mit dem Titel "Eine
Auslieferung ist keinesfalls einfach", benennt 4 Bedingungen des
deutschen Rechts, an die eine Auslieferung geknüpft ist. Da ist die Bedingung,
dass die Straftat in beiden Ländern strafbar sein muss (II.1), dass keine
Todesstrafe ausgesprochen werden darf (II.2), dass dem Straftäter ein fairer
Prozess gemacht werden muss (II.3), und da ist das Verbot jemanden auf Grund
von politischen Aktivitäten auszuliefern (II.4). Die Analyse wird die
rechtlichen Schranken aufzeigen, die es Deutschland schwerlich gestatten, dem
Auslieferungsantrag gegen TXT nachzukommen.
Teil III, mit dem Titel "Agieren
unter widrigen Umständen", trägt einige Ideen vor, wie unter schwierigen
Umständen dennoch angemessen agiert werden kann, und bewertet Handlungsweisen,
die in der Realität vorgenommen wurden.
Teil IV, mit dem Titel "Welche
Rettung ist möglich?", diskutiert 4 Konzepte, die sich zur Lösung der
gegenwärtigen Krise anbieten. Das sind der "Entschluss zur Ehrlichkeit"
(IV.1), der "Entschluss zur Lüge" (IV.2), die "aufrichtige
Reue" (IV.3), und der "Wille zum gemeinsamen Sieg"
(IV.4).
Teil V, mit dem Titel "Wichtige
Eckpunkte", trägt einige kurze Stellungnahmen zur
Korruptionsbekämpfung vor (V.1), bewertet den Fall TXT (V.2) und gibt ein paar
Empfehlungen an die öffentliche Meinung ab (V.3).
Dieser Aufsatz wird in der Art einer
wissenschaftlichen Forschungsarbeit vorgetragen. Er richtet sich daher an
Personen, die genug Zeit investieren können, ihn gründlich zu lesen und zu
durchdenken, um die in ihm enthaltenen Botschaften zu verstehen. Er ist sehr
theoretisch und trocken und nicht als Lektüre zur Unterhaltung geeignet. Der
Artikel benennt nicht den Verlauf der Ereignisse und stellt auch keine
Ermittlungsergebnisse vor. Und er beschränkt sich nicht allein auf den Fall TXT.
Gerade deshalb trägt er den Titel "Einige Gedanken aus Anlass des
Falles Trịnh Xuân Thanh", und nicht "... zum Fall Trịnh
Xuân Thanh".
I. Machtbegrenzung im Rechtsstaat
I.1. Prozess zum Verbot der NPD
Die NPD (Nationaldemokratische Partei
Deutschlands) ist eine rechtsextreme, nationalistische
Partei, die 1964 gegründet wurde. Nach Einschätzung vieler
Politikwissenschaftler, vieler Historiker und des Bundesverfassungsgerichts
steht die NPD der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche
Arbeiterpartei) nahe.
Am 30.1.2001 beantragte die Bundesregierung beim
Bundesverfassungsgericht,
die NPD zu verbieten. Am 30.3.2001 stellten der Bundestag und der Bundesrat unabhängig voneinander den
gleichen Antrag. Diese Anträge scheiterten aber am V-Mann-Skandal, da die
Beweismittel, die die Antragsteller zum Nachweis der Verfassungswidrigkeit der
NPD vortrugen, überwiegend auf Informationen von V-Männern beruhten, die das Bundesamt für Verfassungsschutz in
die NPD eingeschleust hatte. Im Oktober 2002 führte das
Bundesverfassungsgericht einen Erörterungstermin durch, um den Einfluss der
V-Männer auf die Partei festzustellen. Die Antragsteller lehnten jedoch unter
dem Vorwand des Quellenschutzes ab, dem Gericht die Namen der V-Leute zu
nennen. Aus diesem Grund sahen 3 (von 7) entscheidenden Richtern ein Verfahrenshindernis und nutzten ihr
Einspruchsrecht um das Verfahren einzustellen. Sie begründeten dies mit einer "fehlenden Staatsferne”. Dieser
Begriff zeigt auf, dass gerade die V-Leute des Verfassungsschutzes (also des
Staates) ihre Finger im Spiel hatten, der NPD ein verfassungswidriges Bild zu
geben. Die 4 anderen Richter wollten erst im Hauptverfahren klären, welchen
Einfluss die V-Leute in Bezug auf die vermutete Verfassungsfeindlichkeit der
NPD ausgeübt hatten. Wenngleich Letztere in der Mehrheit waren, war das nicht
ausreichend, da nach Artikel 15 Absatz 4 des Bundesverfassungsgerichts-gesetzes, eine
Zweidrittelmehrheit für diesen Beschluss notwendig ist. Daher verkündete das
Bundesverfassungsgericht am 18.3.2003, dass das Verfahren zum Verbot der NPD
nicht weitergeführt werde.
Im Dezember 2012 stellte der Bundesrat wiederum einen
Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht, nachdem
die Innenminister der Länder dies übereinstimmend beschlossen hatten. Am 17.1.2017
erließ das Bundesverfassungsgericht den Beschluss, in dem festgestellt wurde,
dass die NPD verfassungsfeindlich und wesensverwandt mit dem
Nationalsozialismus, aber die Partei aus Sicht des Gerichts nicht in der Lage
sei, die Demokratie ernsthaft zu bedrohen. Der Gerichtspräsident sagte: "Es
fehlt aber derzeit an konkreten Anhaltspunkten von Gewicht, die es möglich
erscheinen lassen, dass ihr Handeln zum Erfolg führt." Deshalb entschied
das Bundesverfassungsgericht, dass die NPD nicht verboten wird.
Das Beispiel zum Scheitern des NPD-Verbots
macht deutlich: Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung sind gegenüber den
Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes machtlos.
I.2. Prozess Daschner
Dies war ein Strafprozess, der sich mit dem
Verdacht der „Verleitung eines Untergebenen zu
einer Straftat“ (Artikel 357 StGB) durch
Wolfgang Daschner und der „Nötigung“, (Artikel
240 StGB) durch Ortwin Ennigkeit befasste. Ausgangspunkt war die Entführung und Ermordung von Jakob von Metzler (11 Jahre) im
Jahr 2002 durch Magnus Gäfgen.
Bei seiner Festnahme gestand Magnus Gäfgen, Jakob
von Metzler entführt zu haben, weigerte sich aber, preiszugeben, wo er diesen
versteckt hielt. In Sorge um das Leben des Opfers beschloss Wolfgang Daschner (Stellvertretender
Frankfurter Polizeipräsident), dem Entführer durch den ihm untergebenen
Kriminalhauptkommissar Ortwin Ennigkeit, die Anwendung unmittelbaren Zwanges
anzudrohen. Gäfgen trug vor, Ennigkeit habe ihm mit "Schmerzen, wie er
sie noch nie erlebt habe" gedroht. Ein polizeilicher „Spezialist“ für
derartige Maßnahmen sei schon mit dem Hubschrauber unterwegs, um die Drohung
wahr zu machen. Und Gäfgen werde mit zwei "großen Negern" in
eine Zelle gesperrt, die an ihm sexuelles Interesse hätten... Ennigkeit behauptete,
dass es keine Drohungen mit "großen Negern" oder einem
Folterspezialisten gegeben habe, und dass er nur weiterhin an das Gewissen des
Entführers appelliert habe.
Die Drohung (sofern sie angewandt wurde) brachte
jedoch nicht den erhofften Erfolg. Nachdem Gäfgen das Versteck des Opfers
angegeben hatte, konnte die Polizei dort nur noch die Leiche des Jungen
auffinden, der vom Entführer bereits vorher getötet worden war. Gäfgen wurde zu
einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Während er diese verbüßte, erhob
er Klage gegen die beiden Polizeibeamten. Die Staatsanwaltschaft beantragte eine
Verwarnung und Geldstrafe. Die Verteidigung plädierte auf
Freispruch.
Am 20.12.2004 befand das Gericht Frankfurt
am Main die beiden Angeklagten für schuldig und verhängte gegen Wolfgang
Daschner eine Geldstrafe in Höhe von 10.800 Euro (90 Tagessätze zu 120 Euro) und
gegen Ortwin Ennigkeit in Höhe von 3.600 Euro (60 Tagessätze zu 60 Euro). Diese
Geldstrafen waren nur zu zahlen, wenn die Verurteilten sich innerhalb eines
Jahres wiederum strafbar machen würden. Das oben genannte Strafmaß wird als sehr milde bewertet, da
das deutsche Strafgesetzbuch für solche Rechtsverstöße eine
Haftstrafe von mindestens 6 Monaten vorsieht.
Die
verfassungsrechtliche Grundlage für das Urteil findet sich in Teil I, Artikel 1, Absatz 1 des
Grundgesetzes (Deutsche Verfassung):
"Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Die Verfassung der SR Vietnam von 2013 weist
eine entsprechende Regelung in Artikel 20 Absatz 1 auf:
"Jeder
Mensch hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit, er wird durch das Gesetz
in Bezug auf seine Gesundheit, Ehre und Menschenwürde geschützt; er darf nicht
gefoltert, Gewalt ausgesetzt, zu einer Aussage gezwungen, misshandelt oder
sonst irgendeiner Behandlung ausgesetzt werden, die einen Angriff auf seine
körperliche Unversehrtheit, seine Gesundheit, seine Ehre oder seine
Menschenwürde darstellt."
Die
Grundlage im internationalen Recht ist die in Artikel 2 der Anti-Folter-Konvention festgelegte
Regelung des "absoluten Verbots der Folter" (absolute
prohibition of torture)
"(1) Jeder
Vertragsstaat trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige, gerichtliche
oder sonstige Maßnahmen, um Folterungen in allen seiner Hoheitsgewalt
unterstehenden Gebieten zu verhindern.
(2) Außergewöhnliche
Umstände gleich welcher Art, sei es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitische
Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Notstand, dürfen nicht als
Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden.
(3) Eine von einem
Vorgesetzten oder einem Träger öffentlicher Gewalt erteilte Weisung darf nicht
als Rechtfertigung für Folter geltend gemacht werden."
Die Bundesrepublik Deutschland hat
die UN-Anti-Folter-Konvention am 13.10.1986 unterzeichnet und am 1.10.1990
ratifiziert. Auch Vietnam hat die Konvention am 7.11.2013 unterzeichnet und am 5.2.2015
ratifiziert.
Die verfassungsrechtlichen Grundlagen sind
sehr ähnlich. Die Grundlagen im internationalen Recht sind auch gemeinsam. Wie
kommt es dann, dass die Umsetzung in beiden Staaten so weit voneinander
abweicht wie Himmel und Hölle? Dieser kosmische Abstand in der Umsetzung beruht
auf einem „kleinen“ Unterschied: Die Bundesrepublik hat die Konvention
ratifiziert und setzt sie nun ernsthaft um. Die SR Vietnam dagegen ist der
Konvention beigetreten und hat sie ratifiziert, ohne dass das weitere Folgen
hätte. Ist es so, dass das nur ein "Dienst" an der Diplomatie
war? Oder müssen wir noch darauf warten, dass die Regierung eine Verordnung
verabschiedet, irgendein Ministerium Durchführungsbestimmungen erlässt, weil
erst dann die Konvention Anwendung finden kann?
Der Prozess Daschner wird hier angeführt, um
sichtbar zu machen, dass die Ansichten zum rechtmäßigen Umgang mit
Festgenommenen, mit Beschuldigten, Angeklagten und Häftlingen sich in Vietnam
um Welten von denen in Deutschland unterscheiden. Deshalb sollten wir nicht
erwarten, dass man dort selbstverständlich unser Denken und Tun akzeptieren
würde. Im Gegenteil, wir sollten uns der Beschränktheit unserer Denkweise
bewusst werden, um diese zu überwinden, wenn wir Teil der zivilisierten Welt
werden wollen.
Damit diejenigen, die den Titel "Vollstreckungsbeamten
der Sozialistischen Republik Vietnam" tragen, ihr eigenes Tun in der
Vergangenheit und das ihrer Kameraden einer ernsthaften Prüfung unterziehen.
Und damit die Bevölkerung Vietnams aufwacht
und einander in die Augen schaut: Sollen wir das wirklich weiter geduldig
ertragen?
I.3. Prozess Haikel S.
Haikel S. ist ein tunesischer Terrorist des
Islamischen Staates (IS). Unter falschem Namen kam er 2015 nach Deutschland und
stellte Asylantrag. Erst im folgenden Jahr stellte man fest, dass er in der
Zeit von 2003 – 2013 bereits in Deutschland gelebt hatte, vorbestraft war und
dass seit 2008 nach ihm gefahndet wurde. Da er beschuldigt wurde, den Überfall auf das Nationalmuseum in
Tunis am 18.3.2015 mitorganisiert zu haben (es wurden 19 ausländische
Touristen, ein Polizist und ein Tunesier getötet und weitere 50 Personen verletzt),
wurde er im September 2016 in
Deutschland in Untersuchungshaft genommen, um seine Auslieferung an Tunesien
entsprechend dem dortigen Haftbefehl abzuwarten. Schließlich wurde er wieder
auf freien Fuß gesetzt, da Tunesien den Haftbefehl nicht an Deutschland
übersandt hatte. Im Rahmen einer Großfahndung unter Teilnahme
von 1.100 Polizisten wurde er am 1.2.2017 auf Grund des Verdachts der
Vorbereitung einiger Überfälle in Deutschland im Namen des Islamischen Staates
und als Kopf eines islamistischen Netzwerkes wiederum
festgenommen.
Bei einer so überaus gefährlichen Person sind
nicht nur die Regierenden in Deutschland sondern auch die deutsche Bevölkerung
nicht daran interessiert, diese zu beschützen und zu verstecken. Deshalb
erschien das tunesische Auslieferungsbegehren wie eine himmlische Chance, die
ausgenutzt werden sollte. Im April 2017 entschied das Verwaltungsgericht, dass
Haikel S. nach Tunesien ausgeliefert werden dürfe, sofern die dortige Regierung
zusichert, dass er nicht mit der Todesstrafe belegt wird. Also wurde er am
22.3.2017 ins Flugzeug gesetzt, um nach Tunesien ausgeflogen zu werden. Bevor
das Flugzeug startete, wurde er allerdings wieder herausgeholt. Was war der
Grund? Er hatte Asylantrag gestellt (das zweite Mal), wegen der Gefahr, in
Tunesien gefoltert und zur Todesstrafe verurteilt zu werden. Und sein Anwalt
hatte einen Eilantrag an das Gericht gestellt, die Auslieferung zu stoppen. Da der Asylantrag noch nicht
abschließend bearbeitet war, wurde die Auslieferung gestoppt. Später fällte das
Verwaltungsgericht Frankfurt am Main die Entscheidung: Der Asylsuchende darf
nicht nach Tunesien ausgeliefert werden, da Tunesien nicht zugesichert hat, ihn
nicht zum Tode zu verurteilen.
Diese Entscheidung hat unter den Deutschen
große Unzufriedenheit und Enttäuschung hervorgerufen. Die Rechtsgrundlagen, auf
die sich das Gericht bezieht, sind aber nicht zu widerlegen Zu dem Zeitpunkt,
als sich TXT in Hanoi "gestellt und gestanden" hat, kämpfte
die Regierung des Bundeslandes Hessen weiterhin um die Abschiebung von Haikel
S. Das Innenministerium von Hessen beruft sich auf Artikel 58a Aufenthaltsgesetz, der
die Abschiebung fremder Staatsbürger erlaubt, "zur Abwehr einer
besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer
terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung". Ob sie damit
erfolgreich sein wird? Das ist noch nicht sicher.
Dieses Beispiel zeigt, dass die deutsche
Regierung nicht tun und lassen kann, was sie will, auch nicht in Fragen, die
berechtigt und notwendigerweise zu lösen sind. In einem tatsächlichen
Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland kann die Regierung sich keine
Entscheidungen anmaßen, die durch Gerichte zu fällen sind, und die Gerichte
gründen ihre Entscheidungen ausnahmslos auf gesetzliche Vorgaben.
I.4. Weitere Anmerkungen
Wahrscheinlich sind die drei oben genannten
Beispiele für viele Menschen in Vietnam schwer nachvollziehbar. Falls dem so
ist, wäre das gut. Denn das Ziel von Teil I ist nicht, dass jeder der ihn
liest, das versteht, sondern es soll durchaus der Eindruck von etwas schwer
Verständlichem entstehen, das aber die vage Vermutung beinhaltet, dass (die
Deutschen) ihre Gründe dafür haben werden. Wozu? Um dem Leser in Vietnam
das Gefühl von etwas Befremdlichem zu geben, wenn er sich in eine ihm kaum
vorstellbare Rechtswelt begibt. Damit er versteht, dass der Abstand zwischen
der Rechtssituation in der vietnamesischen und der in der deutschen Gesellschaft
sich nicht mit räumlichen Distanzen erfassen lässt (ungefähr 8.500 km Luftlinie),
sondern dass ein Zeitmaß notwendig ist (gerechnet in Jahrzehnten), um die
Unterschiede zwischen den beiden Rechtszivilisationen erfahrbar zu machen.
Dieses Verständnis führt zu mehr Umsicht in der Kritik und Beurteilung der
anderen.
Darüber
hinaus wird dieses Gefühl des "schwer Verständlichen, das
möglicherweise begründet ist" uns helfen zu erkennen, dass wir
eifrig lernen, fleißig studieren müssen, um uns das für das Verständnis
notwendige umfangreiche Wissen wenigstens teilweise anzueignen, und uns
überzeugen, bei Google wichtige Internet-Informationen zu suchen, um
auftretende Fragen zu beantworten. Zum Beispiel:
(1)
Weshalb
ist es dem Deutschen Bundestag, dem Bundesrat und der Bundesregierung als den
mächtigsten Staatsorganen der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich, selbst
ein Verbot der NPD auszusprechen? Warum müssen sie dies beim Bundesverfassungsgericht
beantragen, das dann diese Anträge ablehnen kann?
(2)
Der
Bundestag hat das Recht, das Grundgesetz nach seinem Willen zu verändern. Warum
legt er die Hände in den Schoß und lässt das Bundesverfassungsgericht auf
Grundlage der aktuell gültigen Verfassung Anträge des eigenen Hauses
zurückweisen?
(3) Warum
akzeptiert das Bundesverfassungsgericht den Antrag zum Verbot der NPD nicht
(obwohl das Bundesverfassungsgericht selbst einschätzt, dass die NPD
verfassungswidrig agiert und dem Nationalsozialismus nahesteht)?
Lassen wir das. Ich stelle keine weiteren
Fragen und werde auch keine beantworten, um dem Leser nicht den Spaß zu nehmen,
bei Untersuchungen selbst die Probleme zu entdecken, Fragen zu stellen und
Antworten zu finden. Und auf diese Weise allmählich auf Wahrheiten zu treffen,
die sich im Unbekannten verbergen.
Im Rechtsstaat hat sich ausnahmslos alles
nach der Verfassung zu richten. Aber die Verfassung muss dieses
Namens würdig sein, vernünftige Prinzipien festlegen und präzis verzahnte
Mechanismen herstellen, um zu gewährleisten, dass das komplizierte Gebilde der
Gesellschaft in fast jeder Situation sicher funktioniert.
Soll sie das erreichen, muss die Verfassung durch auserlesene Köpfe verfasst
werden, durch hervorragende Intellektuelle, die über das notwendige Wissen und
einen Weitblick über Jahrzehnte verfügen, damit die Verfassung nicht nur die Probleme
der Gegenwart, sondern auch die des kommenden Jahrhunderts regeln kann. Sie
darf nicht von der regierenden Macht aufgezwungen
werden. Sie darf auch nicht durch Leute geformt und modifiziert
werden, die nur über ein halbgewalktes Rechtsverständnis verfügen und in Fragen
der Staatsführung unbedarft sind, Leute, die gern ausgewählt werden, um ein
buntes Bild der Pseudodemokratie zu zaubern. Eine solch großartige
Verfassung würde natürlich Artikel enthalten, die vielen Menschen
unverständlich oder auch in ihren realen Folgen unakzeptabel erschienen.
Eine Feststellung ist vor Abschluss dieses
Abschnitts noch nötig, um den falschen Schluss (aus dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der NPD) zu vermeiden, dass der deutsche
Staat Rechtsradikale mit nationalsozialistischen Tendenzen toleriert und geschützt
hätte, warum nicht korrupte Leute wie TXT? Nein, man kann nicht sagen, dass der
deutsche Staat nicht aktiv gegen eine rechtsradikale Bewegung von Neonazis
vorgehen würde. Wenn das so wäre, wäre nicht zweimal ein Verbotsantrag gegen
die NPD gestellt worden.
Um dieser Sorge entgegen zu wirken, schauen
wir uns das folgende kleine Beispiel an. Am 5.8.2017, nahm die deutsche Polizei zwei
chinesische Touristen fest (36 und 49 Jahre alt) und erlegte jedem eine
Geldstrafe von 500 Euro auf (über 13 Millionen VND), da
diese gegen den Artikel 86a StGB verstoßen hatten: Verwendung von Kennzeichen
verfassungsfeindlicher Organisationen. Inwiefern? Als die beiden
sich mit dem Smartphone vor dem Reichstagsgebäude fotografierten, erhoben sie
begeistert den Arm zum Hitlergruß. Damit verletzten sie
Artikel 86a StGB.
II. Eine Auslieferung ist keineswegs einfach
Viele volltönende Erklärungen werden im
Internet gepostet. Aber beim Lesen stellt sich Trauer ein über allzu gefällige
Denkweisen und Äußerungen. Man versucht nicht, etwas zu verstehen, einer Frage
auf den Grund zu gehen, sondern stellt eilig beliebige Behauptungen auf, die
man für gültige Wahrheiten ausgibt. Wie ein Reiter, der unerschrocken seinen
Bogen spannt, aber das Ziel nicht im Blick hat, so dass der Pfeil zu weit
fliegt und sein Ziel verfehlt.
Manche
meinen:
"Sowohl Vietnam als auch
Deutschland sind Mitgliedstaaten von Interpol; Vietnam hat einen
internationalen Haftbefehl gegen TXT erlassen, Interpol hat den Namen auf die
Fahndungsliste gesetzt, also ist Deutschland verpflichtet, sich mit Interpol
und der vietnamesischen Polizei abzustimmen und den Haftbefehl umzusetzen."
Kraftvolle Worte. Aber ist es wirklich so? Dass
"Vietnam einen internationalen Haftbefehl gegen TXT erlassen" hat,
haben die Zeitungen geschrieben. Aber hat "Interpol den Namen auf
die Fahndungsliste" gesetzt? Wenn ja, dann auf welche "Liste"?
INTERPOL gibt 8 Arten von Ausschreibungen
(Notices) weiter, darunter
hat nur die Rote Ausschreibung (Red Notice) einen
Bezug zu Festnahmen von mit Haftbefehl Gesuchten (to arrest of wanted persons).
Am 17.11.2016 erklärte Generaloberst
Lê Quý Vương (Vizeminister für Öffentliche Sicherheit): Das Sekretariat von Interpol
hat Trịnh Xuân Thanh am 29.9. zur internationalen Fahndung ausgeschrieben, nachdem
die vietnamesische Ermittlungsbehörde darum ersucht hat. Aber
am 6.8.2017 (also mehr als 8 Monate
später), brachte VOA die Nachricht "Der Name Trịnh Xuân Thanh ist auf
der Seite von Interpol nicht zu finden". Was
ist nun wahr? Beim Versuch am 10.8.2017, selbst die Rote Ausschreibung von INTERPOL zu durchforsten, fand
sich nur eine vietnamesische Person mit dem Nachnamen Trịnh und eine mit dem
Vornamen Thanh, aber beide waren Frauen.
Angenommen,
INTERPOL nimmt den Namen TXT in die
Rote Ausschreibung auf, was passiert dann? Ist die "deutsche Polizei
verpflichtet sich mit INTERPOL und der vietnamesischen Polizei abzustimmen und
den Haftbefehl umzusetzen" oder nicht? Leider ist die Antwort NEIN! Denn
INTERPOL schreibt eindeutig auf
seiner Webseite, die Rote Ausschreibung "is not an
international arrest warrant", und
"INTERPOL
cannot compel any member country to arrest an individual who is the subject of
a Red Notice. Each member country decides for itself what legal value to give a
Red Notice within their borders."
Andere
Internetaktive sind der Ansicht:
"Damit ein im Ausland
befindlicher Straftäter zur Strafverfolgung an ein Land ausgeliefert wird, muss
dieses ein Rechtshilfeabkommen mit dem Staat unterzeichnet haben, an den das
Ersuchen gestellt wird …"
Wenn
wir dieser Behauptung Glauben schenken, leitet sich daraus ein furchtbarer
Irrtum ab. Nämlich dass, da Vietnam und Deutschland kein Auslieferungsabkommen
geschlossen haben, Deutschland ein Auslieferungsersuchen von Vietnam gegen TXT
nicht akzeptieren würde. Das hieße, dass Vietnam nichts anderes übrig bliebe,
als TXT aus Deutschland entführen zu lassen. Es ist aber so, dass ein
bilaterales Auslieferungsabkommen eine Auslieferung zwar erleichtern und
beschleunigen kann, aber nicht zwingend notwendig ist. In Deutschland ist das
eindeutig geregelt:
"Es muss nicht zwingend ein
Auslieferungsabkommen bestehen; eine Auslieferung ist auch auf vertragloser
Grundlage möglich." (Handbuch für
Parlamentarier, 2/2001)
Weshalb hat dann Deutschland das Ersuchen von
Vietnam gegen TXT noch nicht erfüllt, und weshalb wird es das vielleicht auch
nicht tun? Um diese Frage zu beantworten, werden hier nachfolgend vier
juristische Voraussetzungen aufgeführt, an die eine Auslieferung geknüpft ist.
II.1. Bedingung der Strafbarkeit in beiden
Ländern
Es ist nicht richtig, dass wenn ein Land
jemanden anklagt und um dessen Auslieferung ersucht, das ausliefernde Land
dieses Ersuchen zwangsläufig akzeptieren müsste. Denn das, was das eine Land
als Straftat bezeichnet, muss in dem anderen keine Straftat sein, es könnte
sogar als etwas Positives betrachtet werden. Wenn zum Beispiel in Vietnam
jemand die Einhaltung der von der Verfassung garantierten Menschenrechte
einklagt, oder ungesetzliches Vorgehen der Machthabenden anklagt, dann kann er
wegen "Propaganda gegen die
Sozialistische Republik Vietnam" (Artikel
88),
oder "Missbrauch der demokratischen
Freiheitsrechte zum Angriff gegen den Staat, gegen die gesetzlich garantierten Rechte
und Interessen von Organisationen und Staatsbürgern" (Artikel 258, Strafgesetzbuch 1999) zu
einer Haftstrafe verurteilt werden. In der Bundesrepublik Deutschland ist das
aber kein Straftatbestand. Wenn nun um alles in der Welt eine Schuld
festzustellen ist, dann nur die der Autoren des Strafgesetzbuches, die sich
diese beiden Artikel ausgedacht haben.
Um eine rechtliche Grundlage für einen
internationalen Haftbefehl zu schaffen, leitete die ermittelnde
Polizeibehörde des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit am 16.9.2016 ein
Verfahren gegen TXT ein unter der Nummer 363/C46(P12) wegen "vorsätzlicher
Verletzung der staatlichen Vorschriften im Wirtschaftsmanagement mit
schwerwiegenden Folgen" – geregelt in Artikel 165 StGB 1999.
Beweggründe sind nicht mess- und bezifferbar.
Wie sollte man feststellen, ob ein Beschuldigter „vorsätzlich“ oder „unabsichtlich“
gehandelt hat? Unter den "staatlichen Vorschriften im
Wirtschaftsmanagement" sind viele gänzlich falsch. Wenn man sie alle streng
befolgen würde, dann würde uns das an den Abgrund führen. Wenn es nicht einige
Leute gäbe, die den Mut haben, "gegen staatliche Vorschriften"
zu verstoßen wie Kim Ngọc, dann
müssten die Bauern noch immer Hunger leiden. Wenn nicht Leute wie Ba Thi „gegen
die staatlichen Vorschriften“ verstießen, wer weiß, wie viele Bewohner der
Stadt mit dem Namen Ho Chi Minh Hungers gestorben wären. Woher kommt also der
Standpunkt, die Vorschriften befolgen sei Recht und dagegen zu verstoßen sei
Unrecht? Und wenn es denn zu „schwerwiegenden Folgen“ kommt, dann ist es
immer noch möglich, dass diese aus den „staatlichen Vorschriften im
Wirtschaftsmanagement“ resultieren oder aber von über- oder untergeordneten
Ebenen verursacht sind, warum sollte man das alles dem Beschuldigten anlasten? Und
wenn nun „wir“ die Situation noch als so unklar empfinden, wie können
wir dann verlangen, dass die „Westler/Europäer“ das verstehen sollten,
um ihrer „Verantwortung zur Abstimmung mit Vietnam“ nachzukommen?
Besonders absurd ist nun, dass das
Ministerium für Öffentliche Sicherheit (bei der Einleitung des
Ermittlungsverfahrens gegen TXT) eines von 5 Delikten zu Grunde legt,
die in dem Strafgesetzbuch von 2015 nicht mehr vorkommen, das eigentlich am
01.07.2016 (also zweieinhalb
Monate vor der Aufnahme der Ermittlungen gegen TXT) in Kraft getreten wäre, wenn
das Inkrafttreten nicht aus schwer nachvollziehbaren Gründen ausgesetzt worden
wäre. Nach Information des damaligen
Justizministers hatte die Regierung vorgeschlagen, den Straftatbestand der "vorsätzlichen
Verletzung der staatlichen Vorschriften im Wirtschaftsmanagement mit
schwerwiegenden Folgen" (Artikel 165, Strafgesetzbuch 1999) aufzuheben,
"um den Notwendigkeiten zur Verbesserung des marktwirtschaftlichen
Systems Rechnung zu tragen, Transparenz und Sicherheit in Bezug auf die
Rahmenbedingungen von Produktion und Geschäftsabwicklung zu gewährleisten". Warum
stützt sich also das Ministerium für Öffentliche Sicherheit im
Beschuldigtenverfahren gegen TXT auf einen Straftatbestand, der aus dem
Strafgesetzbuch von 2015 gestrichen worden ist, das zum genannten Zeitpunkt hätte
Rechtskraft besitzen und anzuwenden sein sollen? Vielleicht, weil sich kein
anderer, passenderer Straftatbestand finden ließ?
Ist TXT korrupt? Die Antwort dazu weiß die
Bevölkerung, wissen die Beamten, und die oberste Führungsriege weiß es noch
besser. Warum gründet sich das Verfahren gegen TXT nicht auf irgendeines der 7 Korruptionsdelikte
des Strafgesetzbuches (1999)? Das Bemühen, kein Korruptionsverfahren
einzuleiten, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass TXT nicht korrupt
gehandelt hat oder höchstens… nur im gleichen Maße wie alle anderen Genossen
auch. Eine allgemein verbreitete Straftat kann nicht angeklagt werden, denn "wenn man sie zur Anklage
brächte, wäre niemand mehr da, um die Führung zu übernehmen".
Basierend
auf den gesetzlichen Bestimmungen der BRD war die Antwort bereits mit Erhalt
des vietnamesischen Auslieferungsantrages gegen TXT recht klar. Denn das IRG (Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen der BRD) regelt in Artikel 3, Absatz 1:
"Die Auslieferung ist nur zulässig, wenn die Tat
auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines
Strafgesetzes verwirklicht, oder wenn sie bei sinngemäßer Umstellung des
Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre."
Nach diesem Absatz darf Deutschland TXT
nicht wegen des „Straftatbestands der vorsätzlichen Verletzung der
staatlichen Vorschriften im Wirtschaftsmanagement mit schwerwiegenden Folgen“
ausliefern, da es im Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland diesen
und auch einen vergleichbaren Straftatbestand nicht gibt.
II.2. Bedingung des Verzichts auf die
Verurteilung zur Todesstrafe
Um die deutsche Regierung zu überzeugen, TXT
auszuliefern, blieb nur noch der Weg, einen weiteren, dem deutschen Recht entsprechenden
Straftatbestand zu ergänzen. Also verkündete am 15.3.2017 die
Strafkammer des Hohen Volksgerichts Hanoi anlässlich der Verhandlung der Betrugssache
im Projekt Thanh Hà - Cienco 5 Land den Beschluss, einen Strafprozess gegen Trịnh
Xuân Thanh wegen "Veruntreuung" einzuleiten. Nun
meinte man, auf diese Weise dem deutschen Recht Genüge getan zu haben, und
niemand erwartete, dass man sich selbst eine Mauer aus Beton errichtet hatte.
Artikel 278 Strafgesetzbuch Nummer 15/1999/QH10 regelt,
dass mit der Todesstrafe bestraft werden kann, wer "ein Vermögen im
Wert von fünfhundert Millionen VND an aufwärts unrechtmäßig an sich reißt".
Artikel 353 Strafgesetzbuch Nummer 100/2015/QH13 (das
eigentlich vom 1.7.2016 an Rechtskraft besaß, aber durch das Gesetz Nummer 12/2017/QH14 geändert
wurde und deshalb erst am 1.1.2018 Rechtskraft erlangen wird) regelt, dass mit
der Todesstrafe bestraft werden kann, wer "ein Vermögen im Wert von 1.000.000.000
VND aufwärts unrechtmäßig an sich reißt", oder wer "einen
Vermögensschaden von 5.000.000.000 VND aufwärts verursacht". Ganz
sicher ist der Negativerfolg von TXT um ein Vielfaches höher anzusetzen als
diese für „Führungskader strategischer Stufe“ angesetzte Norm.
Währenddessen
regelt das IRG in Artikel 8:
"Ist
die Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht, so
ist die Auslieferung nur zulässig, wenn der ersuchende Staat zusichert, dass
die Todesstrafe nicht verhängt oder nicht vollstreckt werden wird."
Kann
der vietnamesische Staat der deutschen Seite garantieren, dass TXT nicht zur
Todesstrafe verurteilt wird? Wenn er das nicht kann, dann „ist das Spiel
aus“. Und wenn er es zusichert, bedeutet das, dass die Staatsführung
Vietnams dem Richter ein Strafmaß aufzwingt (nicht höher als lebenslängliche
Haft). Das wiederum verletzt Artikel 103 Absatz 2 der Verfassung von 2013, die
regelt:
"Richter
und Schöffen entscheiden unabhängig und folgen nur dem Gesetz; eine
Einflussnahme von Behörden, Organisationen, Einzelpersonen auf die Rechtsprechung
durch Richter und Schöffen ist streng verboten."
Außerdem würde das der Staatsführung Vietnams
in den Ruf der Willkür bringen. Und wie sollten spätere ähnlich gelagerte Fälle
entschieden werden? Wenn auf Grund dieses Präzedenzfalles niemand mehr wegen „Veruntreuung“
zum Tode verurteilt werden könnte, dann wäre das eine Negierung des
Strafgesetzbuches der SR Vietnam, oder etwa nicht?
II.3. Bedingung eines fairen Verfahrens
Selbst
wenn der vietnamesische Staat zusichern würde, dass TXT nicht zum Tode
verurteilt wird, wäre das für eine Auslieferung durch Deutschland noch immer
nicht ausreichend. Eine wichtige Voraussetzung, damit Deutschland einer
Auslieferung zustimmt, ist diese:
"Es muss sichergestellt
sein, dass ihn ein fairer Prozess erwartet..." (Handbuch für Parlamentarier,
2/2001)
Dies ergibt sich unmittelbar aus den
Bestimmungen des Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes: "Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Und dies entspricht auch der
Übereinkunft des "absoluten Verbots der Folter", das in
Artikel 2 der Anti-Folter-Konvention der Vereinten
Nationen geregelt ist.
Selbstverständlich wird die vietnamesische
Seite erklären, dass ein faires Verfahren für TXT garantiert ist. Aber kann
Deutschland dieser Garantie Glauben schenken? Um besser verstehen zu können,
warum die Deutschen daran zweifeln, sehen wir uns ein paar traurige Erfahrungen
an, die sie machen mussten.
Nach Hanoi geflogen, um persönlich der
öffentlichen Berufungsverhandlung von Nguyễn Hữu Vinh und Nguyễn Thị Minh
Thúy
beizuwohnen und ebenso wie viele andere Interessierte auf die Straße verbannt,
da man sie nicht in den Verhandlungsraum einließ, urteilte der Abgeordnete des
Deutschen Bundestages Martin Patzelt am 23.9.2016 in einer Pressemitteilung mit
dem Titel "Vietnam: Kein faires
Berufungsverfahren für Menschenrechtler Nguyen Huu Vinh".
Am
30.6.2017 veröffentlichte die Menschenrechtsbeauftragte der Deutschen
Bundesregierung Bärbel Kofler eine Pressemitteilung zur Verurteilung von Nguyễn
Ngọc Như Quỳnh (Mẹ Nấm), darin steht:
"Ich bin schockiert über die
Verurteilung der Bloggerin und Aktivistin Nguyen Ngoc Nhu Quynh zu 10 Jahren
Haft. Das offensichtlich politisch gesteuerte Urteil widerspricht
menschenrechtlichen Prinzipien und verstößt gegen internationale
Verpflichtungen im Bereich bürgerliche und politische Rechte, die Vietnam
selbst unterzeichnet hat."
Und am 27.7.2017, gibt Bärbel Kofler eine weitere,
ähnliche Pressemitteilung "zur Verurteilung der
vietnamesischen Menschenrechtsaktivistin Tran Thi Nga zu neun Jahren Haft"
heraus. Beide Mitteilungen wurden auf der Webseite
des Auswärtigen Amtes veröffentlicht, was heißt, dass die
Bundesregierung die gleiche Meinung vertritt.
Da die deutsche Seite ihren Standpunkt so
deutlich gemacht hat, wie sollte sie da überzeugt werden können, dass TXT einen
fairen Prozess zu erwarten hat? Etwa durch eine solche beruhigende Erklärung,
dass der Genosse TXT als ehemalige hochrangige Führungskraft nicht so übel
abgeurteilt werden wird wie eine Rotte von Menschenrechtskämpfern?
II.4. Verbot der Auslieferung, wenn es sich
um eine politische Tat handelt
Das
am schwersten zu überwindende Hindernis bildet die Regelung des IRG Artikel 6, Absatz 1:
"Die
Auslieferung ist nicht zulässig wegen einer politischen Tat oder wegen einer
mit einer solchen zusammenhängenden Tat."
Obwohl dieser Paragraph die Auslieferung
ausnahmsweise zulässt bei Völkermord, Mord und Totschlag, ist das kein
Schlupfloch, um TXT habhaft zu werden, da die vietnamesische Seite ihn nicht dieser
Straftaten bezichtigt hat.
Sie sollen nicht voreilig behaupten, TXT
würde nicht wegen politischer Gründe, sondern wegen Wirtschaftsstraftaten
verfolgt. Sie sollen auch keine Kraft verschwenden, Deutschland zu überzeugen,
dass TXT sich der Korruption schuldig gemacht hat. Denn nach deutschem Verständnis
erfüllt die Mehrheit der vietnamesischen Beamten die Kriterien der Korruption
und müsste aus diesen Gründen vor Gericht gestellt werden. Ganz sicher muss man
sich in Deutschland nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob TXT korrupte
Straftaten begangen hat, aber man braucht zwingend eine Antwort auf die Frage:
Ist die Anklage von TXT politisch motiviert, oder ist sie bezogen auf
politisches Handeln? Trägt der Prozess gegen TXT politische Züge?
Frau Petra Isabel Schlagenhauf, eine
der AnwältInnen, die TXT verteidigen, behauptete in einer Presseerklärung:
"Herr
Trinh hätte sich unter keinen Umständen freiwillig in die Hände vietnamesischer
Behörden begeben. Ihm war bewusst, dass er in Vietnam aus politischen Gründen
keinerlei rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten hatte."
Das heißt, nach Ansicht von Rechtsanwältin Schlagenhauf
und ihres Mandanten TXT, trägt dieser Prozess politische Züge und TXT "hat
kein faires Verfahren zu erwarten".
Um
diese Ansicht zu untermauern, verwendet Anwältin Schlagenhauf 653 Wörter (im
Deutschen) zur Beschreibung des Machtkampfes zwischen dem Generalsekretär der
KPV Nguyễn Phú Trọng und Premierminister Nguyễn Tấn Dũng und geht gleichzeitig
auf die Schicksale von Vũ Huy Hoàng, Đinh La Thăng und TXT ein. Darin findet
sich der Absatz:
"Herr
Trinh, Xuan Thanh galt als Schützling sowohl von Vu, Huy Hoang als auch Dinh,
La Thang. Auch hat er persönlichen Kontakt zu Nguyen, Tan Dung, dem Anführer
der derzeit entmachteten Fraktion innerhalb der KP Vietnams. Er gehört der
Reformer-Tendenz der KP Vietnams an. Er hat in der Regierungszeit von Nguyen,
Tan Dung eine erfolgreiche Karriere absolviert. Politische Beobachter schätzen
ein, dass die strafrechtliche Verfolgung gegen Herrn Trinh, Xuan Thanh
politisch gegen die Fraktion von Nguyen, Tan Dung zielt und beabsichtigt ist,
die Reformer (die „Kapitalisten“) innerhalb der KP zu zerschlagen und die Rolle
der Partei auf der Basis der kommunistischen Ideologie wieder herzustellen und
zu stärken."
Nun ist die Frage, wie der oben geschilderte
Standpunkt von Frau Schlagenhauf zu widerlegen wäre. Die Konflikte und
Machtkämpfe der Führungseliten sind ein offenes Geheimnis, jeder weiß darum. Frau
Schlagenhauf ging sogar auf den Bericht vom 4.9.2016 ein, den TXT an das
Zentralkomitee der KPV sandte. Darin schloss TXT: "Ich trete aus der
Partei aus, da ich kein Vertrauen in die Führungskompetenz des Genossen
Generalsekretär habe."
Lässt sich die öffentliche Meinung im In- und
Ausland tatsächlich davon überzeugen, dass all diese Faktoren keinerlei Einfluss
auf die Motivation und die Gefühle derer haben sollten, die die Klageerhebung
und den internationalen Haftbefehl gegen TXT zu verantworten haben? Und lässt
sich beweisen, dass der Fall TXT in keiner Weise durch politische Motive
beeinflusst ist? Lassen wir die Fragen nach psychologischen Hintergründen
beiseite (die schwerlich eindeutig zu beantworten sind), und wenden uns vier
konkreten Aspekten zu, die in der Presse veröffentlicht wurden und auf die sich
die deutsche Seite in ihrer Argumentation stützen kann.
II.4.a. Die Kräfte, die die Verfolgung
anordnen
Formal hat das Ministerium für Öffentliche
Sicherheit am 16.9.2016 ein Verfahren gegen TXT eingeleitet und ihn
international zur Fahndung ausgeschrieben. Aber der
Öffentlichkeit ist sehr wohl bewusst, dass das Ministerium für Öffentliche
Sicherheit in einer so „sensiblen“ Sache nicht selbst beschließen kann. Dieser
Befehl kam ganz sicher von höchster Ebene. Wenngleich der eigentliche Beschluss
im Hintergrund in die Kategorie „geheim“ fällt, ist doch sein
machterhaltender Charakter am 6.12.2016 durch den
Generalsekretär Nguyễn Phú Trọng auf einer Veranstaltung mit Wählern des
Kreises Đông Anh (Hà Nội) offenbart worden, als dieser verkündete man werde
„alles dafür tun, Trịnh Xuân Thanh festzunehmen". Reichlich
4 Monate später bestimmte der Generalsekretär als Sitzungsleiter des
Anti-Korruptions-Ausschusses am 17.4.2017, "die Ermittlungen zu bündeln
und den Prozess zu den Vorgängen im Öl- und Gaskonzern Vietnams (PVC)
auszuweiten; Trịnh Xuân Thanh festzunehmen und nach Vietnam zu überführen, um
gegen ihn zu ermitteln und ihn in einem Prozess zur Rechenschaft zu ziehen".
Die Öffentlichkeit in Vietnam hat sich darob
kaum beunruhigt, im Gegenteil, der Generalsekretär wurde sogar für seine
eiserne Hand und Entschiedenheit im Kampf gegen die Korruption gelobt. Die
Deutschen aber stellen die Frage: Wieso kann der Generalsekretär der KPV
veranlassen, dass TXT festgenommen wird? Um das zu beantworten, führt die
vietnamesische Seite selbstverständlich Artikel 4 der Verfassung an, der
festlegt "Die KPV... ist die führende Kraft des Staates und der
Gesellschaft". Mit ihrem Hang zur Exaktheit werden die
Deutschen einwenden, dass Artikel 4 der Verfassung auch regelt:
"Die Parteiorganisationen und die Mitglieder der KPV werden im Rahmen
von Verfassung und Recht tätig." Und "im
Rahmen" der Strafprozessordnung von 2015 (rechtsgültig
seit dem 27.11.2015) wird keine Führungsposition der KPV in der Liste der Personen
aufgeführt, die nach Artikel 110 „befugt sind, in dringenden Situationen
Haftbefehle zu erlassen“, und keine in der Liste der Personen, die nach
Artikel 113 "befugt sind, Haftbefehle zu erlassen, einen
Beschuldigten/Angeklagten in Untersuchungshaft zu nehmen“. Selbst wenn es
sich wie hier um die Funktion des Vorsitzenden des Zentralen
Anti-Korruptions-Ausschusses handelt (gegründet nach Beschluss Nummer 162-QĐ/TW
durch das Politbüro), wird das die Deutschen nicht zufriedenstellen,
denn das ist ein Ausschuss der KPV, der „im Rahmen“ der
Strafprozessordnung von 2015 nicht erwähnt wird.
Das heißt nach dem "beschränkten
Verständnis" der Deutschen, allein die Tatsache, dass der
Generalsekretär einer politischen Partei verkündet, es sei "alles dafür
zu tun, TXT festzunehmen" und es seien "die Ermittlungen zu
bündeln…, um Trịnh Xuân Thanh festzunehmen und nach Vietnam zu überführen, um
gegen ihn zu ermitteln und ihn in einem Prozess zur Rechenschaft zu ziehen“,
ausreichend ist, um festzustellen, dass es sich um einen politischen Prozess
handelt oder dass zumindest der Generalsekretär diesem Prozess einen
politischen Anstrich gegeben hat.
II.4.b. Das Delikt, dessentwegen verfolgt
wird
Als das Ministerium für Öffentliche
Sicherheit am 16.9.2016 den internationalen Haftbefehl erteilte, war der
Beschuldigte lediglich einer Straftat beschuldigt, "der vorsätzlichen
Verletzung der staatlichen Vorschriften im Wirtschaftsmanagement mit
schwerwiegenden Folgen“. Da in der SR Vietnam staatliche Beschlüsse
eigentlich Beschlüsse der Kommunistischen Partei sind, bedeutet "vorsätzliche
Verletzung der staatlichen Vorschriften" auch "vorsätzliche
Verletzung der Vorschriften der KPV", und dies kann als ein sich
Widersetzen gegen die Richtlinien einer politischen Partei gewertet werden.
Damit trägt aus Sicht der Deutschen das Handeln von TXT eindeutig politischen
Charakter.
II.4.c. Das Verfolgungspersonal
Am
Morgen des 30.7.2017 teilte der Journalist Huy Đức mit: "Trịnh
Xuân Thanh ist zurück, aber die Presse verfällt in Schweigen."
Dieses kurze Statement sorgte für Wirbel. Später, als ein Journalist der Zeitung
namens "Pháp luật Thành phố Hồ Chí Minh" nach der offiziellen
Stellungsnahme des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit über die Information
fragte, dass die Ermittlungsbehörden Trịnh Xuân Thanh zwischenzeitlich nach
Vietnam verbracht hätten, erwiderte Generaloberst Tô Lâm: "Bis jetzt
liegen mir dazu keine Informationen vor." Unmittelbar
danach brachte die Internetseite mit dem Namen „Abgeordnete des Volkes“
(unter der Webadresse http://quochoi.org/) am
30.7.2017, um 12.50 Uhr in der Rubrik "Polemik im Internet" den
Artikel "Die Wahrheit über die Nachricht, Trịnh Xuân Thanh sei nach
Vietnam zurückgekehrt". Dieser Artikel beginnt wie folgt:
"Auf
seiner persönlichen Facebookseite teilte Trương Huy San (alias Osin Huy Đức)
heute Morgen in der Statuszeile die reißerisch-provokante Nachricht “Trịnh Xuân
Thanh ist zurück, aber die Presse verfällt in Schweigen”. Diese kurze
Mitteilung erhielt sofort Tausende Likes, Hunderte Kommentare, und die
Öffentlichkeit führt aufgeregte Debatten darüber. Was ist nun wahr daran?"
"In
einer raschen Reaktion teilte Generaloberst Tô Lâm, Minister für Öffentliche
Sicherheit, heute Morgen (30.7.) bei einem Gespräch mit Journalisten der Zeitung
"Pháp luật Thành phố Hồ Chí Minh" zu den Gerüchten um die Rückführung
von Trịnh Xuân Thanh nach Vietnam durch das Ministerium für Öffentliche
Sicherheit zur Durchführung von Ermittlungen mit: “Bis jetzt liegen mir dazu
keine Informationen vor”."
Aber
am folgenden Tag, dem 31.7.2017, meldet das Ministerium, TXT habe sich "der Strafabteilung der
ermittelnden Sicherheitsbehörde des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit
gestellt". Und Frau Petra Isabel Schlagenhauf (Rechtsanwältin
von TXT) schreibt in einer Pressemitteilung:
"Die
mit ihm (TXT) verschleppte vietnamesische Staatsangehörige befindet sich seit
dem 25.7.2017 unter polizeilicher Bewachung im Krankenhaus Viet Duc in Hanoi."
"Das Wort des Königs ist Gesetz." Daher
kann der Minister den Journalisten der juristischen Zeitung von
Ho-Chi-Minh-Stadt gegenüber nicht gelogen haben. Also muss man prinzipiell
davon ausgehen, dass Generaloberst Tô Lâm die Wahrheit gesagt hat. Das
bedeutet, dass dem Minister für Öffentliche Sicherheit "keine
Informationen vorlagen", obwohl TXT schon seit einigen Tagen nach
Vietnam „zurückgekehrt“ war.
Artikel
493 Absatz 1 der Strafprozessordnung von 2015 regelt:
"Das
Ministerium für Öffentliche Sicherheit ist das
zentrale Organ der Sozialistischen Republik Vietnam in Bezug auf Auslieferung
und Rückführung von Personen, die eine Haftstrafe verbüßen."
Dennoch wusste der oberste Chef dieses
zentralen Organs nichts über die Offensive zur „Rückführung von TXT“. Nach
den "einfachen" Schlussfolgerungen der Deutschen muss also, wenn
diese Offensive nicht durch "das zentrale
Organ der Sozialistischen Republik Vietnam in Bezug auf Auslieferung und
Rückführung von Personen, die eine Haftstrafe verbüßen“ angeordnet und durchgeführt worden ist, diese ganz
sicher durch irgendeine Bande gesteuert worden sein. Demnach kann diese
Offensive nur den Machtkampf zwischen Banden dienen und nicht gerechtfertigtes
Handeln eines Rechtsstaates darstellen. Und natürlich ist gerade das auch ein
politisches Merkmal des Prozesses gegen TXT.
II.4.d. Die Verfolgungsmethoden
Für
Deutschland ist dies eine Entführung. Auf Grund der Schwere des Falles übernahm
die Generalbundesanwaltschaft am 10.8.2017 offiziell die Ermittlungen von der
Staatsanwaltschaft Berlin. In einer Mitteilung der
Generalbundesanwaltschaft vom gleichen Tage heißt es:
"Nach
den bisherigen Ermittlungen ist derzeit davon auszugehen, dass die Tatopfer in
die vietnamesische Botschaft in Berlin und von dort aus nach Vietnam verbracht
worden sind. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen
wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB)
sowie der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB)
übernommen."
Die Entführung von TXT inmitten der
Hauptstadt Berlin ist ein wildes widerrechtliches Vorgehen, das nicht als
gerechtfertigtes Handeln eines Rechtsstaates angesehen werden kann. Würden Sie,
geschätzter Leser, einen auf eine solche Weise geführten Prozess als einen mit "politischen
Zügen", oder mit "mafiosen Zügen", oder mit einem
gänzlich anderen Begriff bezeichnen?
II.4.e. Das bedeutet, egal
aus welcher Perspektive das Problem untersucht wird, es ergibt sich immer
wieder eine starke politische Komponente. Wie ließe sich daher angesichts der
in diesem Teil II.4 dargelegten Inhalte, der Verdacht des "politischen Verfahrens"
entkräften? Und weshalb sollte sich Deutschland überzeugen lassen, das
Verbot "Die Auslieferung wegen einer politischen Tat ist nicht zulässig"
(IRG, Artikel 6, Absatz 1) zu
verletzen?
II.5. Zusammengefasst
lässt sich sagen, es gibt keinerlei stichhaltige Beweise für die Erklärung seitens
Vietnams, INTERPOL habe den Namen TXT auf die Rote Liste gesetzt. Wenn INTERPOL
dies getan hätte, könnte dennoch "INTERPOL keinem Mitgliedsland den
Befehl erteilen, eine Person, die auf dieser Liste vermerkt ist, festzunehmen“
– Das ist ein Prinzip der INTERPOL.
Deutschland dazu zu bringen, das
Auslieferungsersuchen gegen TXT zu akzeptieren, ist sehr schwierig, da dieses
Anliegen an etlichen strengen Bedingungen des deutschen Rechts scheitert.
Das Hindernis, dass die Straftat in beiden
Ländern strafbar sein muss (II.1) wurde beseitigt, indem der Strafprozess gegen
TXT am 15.3.2017 um den Vorwurf der „Unterschlagung“ erweitert wurde.
Aber gerade deshalb ergibt sich das neue Hindernis, dass keine Todesstrafe
verhängt werden darf (II.2), denn im Vietnamesischen Strafgesetzbuch wird als
Höchststrafe für „Unterschlagung“ die Todesstrafe festgesetzt. Wenn die
vietnamesische Regierung eigenmächtig erklärt, dass TXT nicht mit der
Todesstrafe belegt wird, dann verletzt das zumindest Artikel 103 Absatz 2 der
Verfassung von 2013, nach der es "streng untersagt (ist, dass)
Behörden, Organisationen, Einzelpersonen Einfluss nehmen auf die Entscheidungen
des Richters, der Schöffen".
Zur Bedingung des fairen Verfahrens könnte die
vietnamesische Seite eine Zusicherung abgeben, aber sowohl der die Versicherung
Abgebende als auch der diese Empfangende wüssten zu genau, dass das nur
Zukunftsvisionen sein könnten. Selbst wenn Vietnam diese Zusicherung ehrlichen
Herzens abgäbe, wüsste doch Deutschland sehr genau, dass die Ansichten beider
Seiten, was ein faires Verfahren ist, meilenweit auseinander liegen. Deshalb
könnten, wenn die deutsche Regierung dieser Zusicherung der vietnamesischen
Regierung Glauben schenken und TXT ausliefern würde, und wenn dann (nach
deutscher Ansicht) TXT in einem nicht fairen Verfahren abgeurteilt würde, die
deutschen Anwälte von TXT die deutsche Regierung mit guten Erfolgsaussichten
vor einem deutschen Gericht verklagen.
Das am schwierigsten zu überwindende
Hindernis aber ist das Verbot der Auslieferung in politisch motivierten
Prozessen. Denn es gibt, wie in II.4 ausgeführt, zu viele Anzeichen dafür, dass
der Prozess gegen TXT politisch motiviert ist.
III. Agieren unter widrigen Umständen
Als es festgestellt wurde, dass TXT sich in
Deutschland aufhielt, dachten die Verfolger, dass sie des Flüchtigen mit
Sicherheit innerhalb kurzer Zeit habhaft werden würden. Denn sie meinten, dass
der "strategische Partner" sie bei der Verfolgung des
korrupten Politikers nach Kräften unterstützen würde. Aber sie stolperten über
das "Eile mit Weile" der deutschen Seite. In ihrer Ungeduld
konnte die vietnamesische Seite nicht verstehen, warum Deutschland so abwartend
war und dem Auslieferungsantrag gegen TXT nicht unverzüglich stattgab.
III.1. Kehren
wir nochmals zum Fall Haikel S. zurück (der in Teil I.3 behandelt wurde), um
von dort den deutschen Gedankengängen zu folgen. Vergleichen wir den Fall Haikel
S. mit dem von TXT, so stellen wir fest, dass es einige grundlegende
Unterschiede gibt:
-
Die
terroristische, mörderische Tat von Haikel S. war um ein vielfaches
schwerwiegender, verglichen mit der Wirtschaftsstraftat von TXT.
-
Die
Verbrechen, die Haikel S. in Deutschland verübt hatte, wurden durch Deutschland
ermittelt und verfolgt. Die von Haikel S. außerhalb von Deutschland verübten
Verbrechen waren Terrorakte und Mord. Dagegen wurde Deutschland über die
Straftaten von TXT nur durch die vietnamesische Seite informiert, und es ist
möglich, dass der Prozess politisch motiviert ist.
-
Die
Verbrechen von Haikel S. hatten einen direkten Einfluss auf die Sicherheit in
Deutschland, wohingegen das Verbrechen von TXT der Bundesrepublik keinerlei konkreten
Schaden zugefügt hat.
-
Die
Verbrechen von Haikel S. konnte dieser in Zukunft fortsetzen, aber das von TXT
bezog sich nur auf die Vergangenheit.
Weshalb sollte also Deutschland
schwerwiegende Fälle wie den von Haikel S. vorläufig aussetzen, um das
Auslieferungsverfahren von TXT bevorzugt zu erledigen?
2016 wurden in der Bundesrepublik 745.545
Asylanträge gestellt. Von Januar bis Juli 2017 kamen weitere 129.903 Anträge
hinzu. Das ist ein unglaubliches Arbeitspensum, das erledigt
werden muss. Nach den Normen des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge hat jeder Angestellte täglich 3 Interviews
durchzuführen oder 3,5 Entscheidungen zu fällen. In der Realität liegt der
Durchschnitt pro Angestelltem aber bei nur 2 Interviews bzw. 2,5 Entscheidungen,
und nur 3 der 66 Asylantragstellen in ganz Deutschland erreichen die Norm. Man
ertrinkt in Arbeit, schafft den Andrang nicht, wer wird sich da antreiben
lassen?
III.2. Und warum diese Eile? Der
Kampf gegen die Korruption ist ein endloser. Der hört niemals auf, weshalb
sollte man sich da anstrengen, schnell zu einem Ende zu kommen? Solange das
gegenwärtige System in Vietnam existiert, so lange wird der
Anti-Korruptions-Apparat seinen Personalbestand aufstocken können, niemand muss
befürchten, arbeitslos zu werden.
Die Korruption durchdringt alle Schichten, je
höher man steigt, desto unverfrorener tritt sie auf. Warum setzt man nun alles
daran, TXT anzuklagen, verschließt aber bewusst die Augen vor Tausenden und
Abertausenden anderer Korruptionsfälle? Wenn es um den Umfang des Verbrechens
geht, dann gibt es andere, die einen mehrfach größeren Umfang aufweisen. Sofern
man sich an diese nicht herantraut, so gibt es noch unzählige andere Fälle von
Fliegenschissen neben dem von Thanh. Das Wichtige ist, diese liegen uns
offensichtlich vor der Nase, die Leute befinden sich in Vietnam, viele der
Straftäter sind auch nach wie vor in Amt und Würden, warum holt man die nicht
hervor und urteilt sie ab, sondern muss sich bis nach Deutschland begeben, um
sich TXT vorzuknöpfen?
Weil TXT ganz besonders böse und korrupt ist?
- Sind die verehrten Verfolger denn so ganz anders geartet, oder nicht
vielleicht doch sehr ähnlich (alles eine Suppe)? Alle gehören ja zur "nicht
kleinen Gruppe" derer, die ordentlich in der gleichen Schule "Lernen
und Nachahmen…" trainiert wurden, dann dank Vertrauen der Partei in die
Kaderplanung aufgenommen und schließlich nach dem "ordnungsgemäßen Verfahren"
in ihre Positionen hochgehievt wurden.
Weil der Fall so schnell aufgeklärt werden
soll? - Die Straftaten von TXT und seinen Kumpanen sind schon lange bekannt.
Warum wurde in der Vergangenheit darüber hinweggesehen und sie erst jetzt vor
Gericht gebracht? Weil „diese Seilschaft“ vorher zu stark war, als dass
man sie hätte erledigen können, und man jetzt klaren Tisch machen kann, da "die
Schlange ohne Kopf ist"? Was ist das Ganze dann anderes als ein
Machtkampf verschiedener Fraktionen?
Weil TXT in etliche andere Straftaten
verwickelt ist und man ihn festnehmen muss, um ihn diesbezüglich als Zeugen
verhören zu können? - Es fehlt doch nicht an Beweisen oder Zeugen, dass man auf
TXT als Retter in der Not angewiesen wäre! Als man ungeachtet der deutschen
Reaktion nach Berlin vordrang und TXT kidnappte, hieß das, es mussten
ausreichend Beweise für seine Verurteilung vorliegen. Wenn das so ist, und wenn
tatsächlich "die Beweislast schwerer wiegt als belastende
Zeugenaussagen", dann ist eine Aburteilung der Mittäter auch ohne die
Anwesenheit von TXT möglich, dann bedarf es seiner Rückkehr und seiner
Unterstützung nicht. Genau davon war auch Herr Vũ Quốc Hùng (ehemaliger
stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Kontrollkommission) überzeugt: "Für
die Disziplinarverfahren gegen involvierte Funktionäre ist es recht unerheblich,
ob Trịnh Xuân Thanh gefasst wird oder nicht."
Es ist eindeutig schwer möglich, vernünftige
Argumente zu finden, die die deutsche Seite überzeugen könnten, TXT sehr bald
auszuliefern.
III.3. Zu einem Zeitpunkt, da
Deutschland sehr mit anderen Problemen beschäftigt ist und angesichts
unüberwindlich scheinender juristischer Hürden hat die vietnamesische nur eine
Chance: geduldig abzuwarten. Leider wartete man nicht ab, sondern man schritt
zur Tat, wie viele nun wissen.
Wenn
der vietnamesische Geheimdienst tatsächlich, wie die deutsche Seite ihn
bezichtigt, TXT mitten in der Hauptstadt Berlin gekidnappt und nach Hanoi
verbracht hat, dann verstößt das nicht nur in grober Weise gegen das deutsche
und das internationale Recht, sondern auch gegen das vietnamesische. Denn
Artikel 492 (über das Prinzip der internationalen Kooperation in Strafprozessen)
der Strafprozessordnung von 2015 regelt
eindeutig:
"Die
internationale Kooperation in Strafprozessen wird realisiert nach dem Prinzip
der Anerkennung von Unabhängigkeit, Souveränität, territorialer Integrität, der
Nichteinmischung in innere Angelegenheiten…"
Wozu eine solch überstürzte, leichtsinnige
Aktion, die schwerwiegende Folgen haben wird? Oder war es so eilig, um
irgendeinen Komplott rechtzeitig inszenieren zu können?
Durch diese unverfrorene auf deutschem
Territorium verübte Tat wurden nicht nur die deutsche Bevölkerung und der
deutsche Staat beleidigt, sondern auch Millionen von Vietnamesen beschämt und
das Ansehen der SR Vietnam beschädigt.
III.4. Ja, ich spreche von "Vietnamesen",
auch von denen, die im Ausland leben, insbesondere die vietnamesische
Gemeinschaft in Deutschland, unter denen etliche eine andere
Staatsangehörigkeit haben. Ich vermeide bewusst den Begriff des "vietnamesischen
Volkes", sondern schreibe, dass "Millionen von Vietnamesen
beschämt" wurden. Denn ich weiß, dass immer noch viele Menschen nicht
mit mir übereinstimmen. Dass man unterschiedlich denkt, ist normal. Andersdenkende
zu respektieren ist der mindeste Anspruch an einen zivilisierten Umgang. Im
Übrigen beruht mein Verständnis dessen, was ich hier über die Deutschen
schreibe, darauf, dass ich selbst die Möglichkeit habe, mich in der deutschen
Gesellschaft zu bewegen. Ich kann also nicht erwarten, dass andere, die diese
Möglichkeit nicht haben, das gleiche Verständnis mitbringen.
Doch trotz dieses Gedankens möchte ich zum
besseren Verständnis des vorliegenden Textes noch auf einige andere Aspekte
eingehen, die sich in Deutschland von Vietnam unterscheiden. Damit diejenigen,
denen Deutschland noch unbekannt ist, diese zur Kenntnis nehmen, bevor sie die
Deutschen weiterhin für ihren Umgang mit dem Fall TXT kritisieren.
III.4.a. Die Deutschen
bezeichnen ihre Verfassung als "Grundgesetz" (die deutsche
Übersetzung des lateinischen "lex fundamentalis") und sie
betrachten sie tatsächlich als das grundlegende Gesetz, das alle zu befolgen
haben. Sie halten ihre Verfassung nicht für ein schmückendes Beiwerk, das die
gesellschaftliche Ordnung tarnt oder ihm ein hübscheres Aussehen gibt. Sie
würden es niemals hinnehmen, wenn die Machthabenden sich nur dann auf die
Verfassung beriefen, wenn ihnen das gelegen käme, sie aber im gegenteiligen
Falle bespucken oder hochmütig mit Füßen treten würden. Und sie könnten sich
den absonderlichen Umstand nicht vorstellen, dass ausgerechnet die
verfassunggebende Nationalversammlung sich scheintot stellt und die
Verabschiedung von Gesetzen willentlich Dutzende von Jahren aufschiebt, um so
die Implementierung der Verfassung zu verhindern. In Deutschland ist es
übrigens so, dass durch die Verfassung festgelegte Regelungen
selbstverständlich rechtskräftig sind. Es gibt da nicht dieses paradoxe
Untertanendenken, dass die Verfassung erst der Verordnungen bedarf, diese
wiederum der Durchführungsbestimmungen, und erst wenn letztere vorliegen, wagt
man sich, die verfassungsmäßigen Bestimmungen anzuwenden. Deshalb hätte es in
Deutschland keinerlei rechtliche Auswirkungen, wenn der Bundestag absichtlich
die Verabschiedung von Gesetzen verzögerte.
Das Recht auf Freiheit ist ein selbstverständliches,
unantastbares Recht. Die Verfassung enthält das Recht auf Freiheit sowie
verschiedene Menschen- und Bürgerrechte, um diese Rechte zu betonen und zu
schützen, nicht, um diese Rechte zu verteilen oder zu erlauben. In Deutschland
ist es den Menschen erlaubt, zu tun, was nicht gesetzlich verboten ist. Daher
gibt es nicht den irrwitzigen Strafvorwurf der "missbräuchlichen
Ausnutzung von Gesetzeslücken" (siehe den Kommentar im Artikel "Demonstrationsfreiheit der
Bürger"). Im Gegensatz dazu dürfen die Mitglieder
des Staatsapparates als Repräsentanten des Staates nur tun, was gesetzlich
erlaubt ist. (Ein Beispiel für diese Rechtsgedanken zeigt die Argumentation des Richters im
Prozess Daschner zum Schuldspruch über den stellvertretenden Polizeipräsidenten
der Stadt Frankfurt am Main Wolfgang Daschner und den ihm unterstellten
Polizeioffizier Ortwin Ennigkeit: Die Androhung von Schmerzen zur Erzwingung
einer Äußerung sei nicht durch das Polizeigesetz von Hessen gedeckt, deshalb
seien ihre Handlungen nicht durch das Argument der Nothilfe gerechtfertigt.) Aus
diesem Grunde hätte Angela Merkel trotz des Gesprächs des vietnamesischen
Premierministers mit der deutschen Kanzlerin am Rande des G20-Gipfels, keine
eigenmächtige Entscheidung entgegen der deutschen Rechtslage und zum Schaden
der Freiheitsrechte von TXT treffen können, um dem "strategischen Partner" einen
Gefallen zu tun.
"Alle Menschen sind vor dem
Gesetz gleich" (Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz). Das
ist eine juristische Realität in Deutschland, keine Verfassungsrichtlinie für
die Zukunft und keine freche Lüge. "Die Richter sind unabhängig
und nur dem Gesetz unterworfen" (Artikel
97 Absatz 1 Grundgesetz). Eine inhaltliche Entsprechung findet
sich auch in Artikel 103 Absatz 2 der
Vietnamesischen Verfassung. Der Unterschied liegt nur darin, dass
diese Forderung in Vietnam einer Hoffnung auf das Paradies gleicht, in
Deutschland dagegen ist sie eine sehr weltliche Realität. Deshalb, wenn die
deutsche Regierung einwilligen würde, TXT auszuliefern, und wenn das gegen
irgendeinen deutschen Gesetzesparagraphen verstoßen würde, dann würden die
Anwälte von TXT Klage erheben, und die Entscheidung der deutschen Regierung
würde vom Gericht zurückgewiesen. Daher kann die deutsche Regierung selbst bei
einigem Verständnis für die hitzige Eile des "strategischen Partners"
nicht gleichermaßen überhitzt reagieren.
III.4.b.
Die Bundesrechtsanwaltsordnung legt
in Artikel 1
feierlich fest:
" Der Rechtsanwalt ist ein unabhängiges Organ der
Rechtspflege."
Diese
kurzgefasste Definition erhärtet nicht nur die "Unabhängigkeit"
des Anwalts, sondern betont auch seine Funktion der "Rechtspflege".
Wir müssen verstehen, dass die Funktion der "Rechtspflege" des
Rechtsanwalts nicht bedeutet, gemeinsam mit dem System der Ermittlungs-,
Anklage- und Rechtsprechungsorgane "rechtspflegerisch" zu
tätigen, sondern dass im Gegenteil der Anwalt verhindern muss, dass diese
Rechtsorgane das Recht verletzen. Allgemein ausgedrückt heißt das, die
Verantwortung des Anwalts ist nicht die Kooperation mit dem System der
Ermittlungs-, Anklage- und Rechtsprechungsorgane, sondern der Widerstand gegen
diese Rechtsorgane im Sinne der "Rechtspflege". In
Konkretisierung dieser Funktion ist in der Berufsordnung für Rechtsanwälte in
Artikel 1 Absatz 3 geschrieben:
"Als unabhängiger Berater
und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten hat der Rechtsanwalt
seine Mandanten vor Rechtsverlusten zu schützen, rechtsgestaltend,
konfliktvermeidend und streitschlichtend zu begleiten, vor
Fehlentscheidungen durch Gerichte und Behörden zu bewahren und gegen
verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu
sichern."
Aus
der Perspektive des Rechtsstaates gesehen liegt die wichtigste Verantwortung
des Anwalts im Erhalt des Gleichgewichts im Rechtssystem. Da sie diesen
Standpunkt nicht teilt, hat die XIV. Nationalversammlung Vietnams sich (bei der
Überarbeitung des gerade erst verabschiedeten, aber
wegen Korrekturbedarf nicht mehr angewandten Strafgesetzbuches) in
Diskussionen um die Verpflichtung des Anwalts zur Anzeige seines Mandanten
verirrt. Die Unterstützer dieser Anzeigepflicht meinen:
"Neben der Berufsethik des
Anwalts steht noch die moralische Pflicht des Bürgers..."
Die
Gegner argumentieren:
"Wenn der Anwalt
Straftaten anzuzeigen hat, wird sich dann der Mandant noch einen Anwalt nehmen?
Will die Gesellschaft den Beruf des Anwalts austrocknen? Wenn der Anwalt, noch
bevor er mit der Verteidigung begonnen hat, seinen Mandanten anzeigt, kann dann
dieser Beruf überhaupt existieren?"
Glücklicherweise ist noch niemand auf die
Argumentation verfallen, "der Fußweg sei nicht der Ort,
um gegen Hunger und Armut zu kämpfen", um
daraus zu schließen, dass "der Beruf des Anwalts kein Mittel zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" sei.
Das grundlegende Problem ist: Um seine
Rolle als Erhalter des Gleichgewichts im Rechtssystem zu erfüllen, muss sich
der Anwalt auf seine Spezialaufgabe als Gegengewicht konzentrieren. Er darf
nicht im Übereifer auf die Gegenseite wechseln und die Ermittlungsaufgaben der
Ermittlungsbehörde übernehmen. Wenn er sich nicht ganz und gar darauf
konzentrieren würde, als Säule des Gegenpols zu agieren, um das Gleichgewicht
zu erhalten, könnte er das Rechtssystem zum Kippen bringen.
In Erfahrung der Debatten der
Nationalversammlung durch die Berichterstattung der Medien war ich versucht,
meine Meinung einzubringen, habe es dann aber gelassen. Einerseits konnte ich
aus Zeitmangel nur einige Ideen zur Verfassung beitragen,
und weil ich schon "Kummer mit der Verfassung" habe,
werden Gesetze belanglos. Andererseits dachte ich mir, sollen sich doch die
Anwälte selbst verteidigen, denn wenn sie sich selbst nicht verteidigen können,
wie sollte ihnen das dann für andere gelingen.
Um ihren beruflichen Aufgaben gerecht zu
werden, müssen deutsche Anwälte sich ständig und mit Leidenschaft weiterbilden
und mit viel Ernst und Zeitaufwand die Prozessakten studieren. In der
Bundesrepublik Deutschland hat ein solcher Anwalt keine Chance, der Prozessakten
nur überfliegt, sich dann die Krawatte anlegt und im Gerichtssaal
Spiegelfechtereien betreibt. Die deutschen Gerichte legen viel Wert auf die
mündliche Erörterung in der Gerichtsverhandlung, deshalb kann der Anwalt nicht
dem Richter die Schuld zuschieben, um seine Inkompetenz und seine Faulheit zu
vertuschen.
Als Mensch, der sehr viel Geld besitzt und
der dazu in einer sehr schwierigen Lage ist, hat TXT ganz sicher eine Reihe der
besten Anwälte beauftragt. Die deutsche Regierung würde es nicht wagen und
hätte auch nicht die Möglichkeit, diese Anwälte zu ignorieren und rechtswidrige
Entscheidungen zu treffen, um TXT auszuliefern. Wenn sie es aus irgendeinem
Grunde darauf anlegen würde, dem Auslieferungsbegehren entgegen der Rechtslage
nachzukommen, dann würde sie in einem Gerichtsverfahren mit Sicherheit eine Niederlage
gegen die Anwälte hinnehmen müssen.
III.4.c. Die Deutschen hegen
eine starke Antipathie gegen korrupte Beamte, umso mehr, wenn es sich um Beamte
eines kommunistischen Systems handelt. Aber man erinnere sie nicht daran, dass TXT
korrupt ist, mit dem Ziel, diese Antipathie hervorzurufen. Denn wenn es um die
Aburteilung eines Straftäters geht, dann schieben sie Gefühle beiseite und
konzentrieren sich nur auf die gesetzlichen Grundlagen. Wenn also TXT
tatsächlich schwerwiegende Straftaten der Korruption begangen hat, und wenn der
Prozess nur die Bestrafung dieser Straftaten zum Ziel hat, dann bestünde die
begründete Hoffnung, dass die Deutschen bereit sind, TXT auszuliefern. Wenn
aber der Prozess politische Motive aufweist, dann wird TXT, unabhängig vom Grad
der Korruptionsvorwürfe, weiterhin in Deutschland Schutz suchen können.
Einerseits ist dies eine Festlegung im deutschen Recht, der niemand
zuwiderhandeln darf, andererseits kann Deutschland nicht ruhigen Gewissens
einen der Korruption Beschuldigten an einen korrupten Apparat zur Aburteilung
übergeben.
Diese Verfahrensweise ist sicherlich
befremdlich und unverständlich für eine Gemeinschaft, die nachhaltig im Sinne
des Klassenkampfes und der Diktatur des Proletariats erzogen worden ist, und den
Geist der Unversöhnlichkeit gegenüber dem Feind verinnerlicht hat. Aber in
einer zivilisierten, humanen Gesellschaft kann ein guter Mensch einem für
schlecht befundenen Menschen nicht jegliche Lebensgrundlage entziehen. Die
deutsche Gesellschaft ist recht human, sie schlägt sich aber eher selten in die
Brust, um sich dieser Humanität zu rühmen. Im Gegenteil werden oft inhumane
Zustände kritisiert, was dazu führt, dass die Menschlichkeit in der
Gesellschaft stärker wird. Auch die vietnamesische Gesellschaft ist human, aber
sie ist sehr auf Selbsterhebung, Selbstlob ausgerichtet, ungeachtet der realen
Gegebenheiten. Und ob der vielen Lobeshymnen fehlt am Ende Zeit und Kraft, das
Gelobte umzusetzen. Wenn jemand noch nicht die Gelegenheit hatte, menschlich zu
wirken, kann man von ihm kein Verständnis und keine Akzeptanz für menschliches
Handeln erwarten.
III.4.d. Sie könnten
Deutschland vorwerfen, nicht entschieden genug gegen Verbrecher vorzugehen.
Aber Sie sollten nicht unterstellen, Deutschland würde Verbrechern "Unterschlupf
gewähren", denn das könnte als Verleumdung betrachtet werden. Sie
könnten, wenn Sie wollten, nach eigenem Ermessen gegen Verbrecher vorgehen,
aber Sie sollten immer daran denken, dies nur in Ihrem eigenen Land zu tun. Und
wenn Sie der Ansicht wären, "der Zweck heiligt die Mittel",
dann sollten Sie nicht vergessen, dass dies ein Gesetz des Dschungels ist, das
nicht einfach in ein rechtsstaatlich organisiertes Land wie die Bundesrepublik
zu exportieren ist. Unsere Vorfahren haben uns gelehrt: "Wenn man in
eine Familie einheiratet, hat man deren Gepflogenheiten zu befolgen".
Berlin gehört der "Familie" der Bundesrepublik Deutschland an,
und wir haben, wenn wir dorthin kommen, die "Gepflogenheiten"
der Deutschen zu befolgen, und uns nicht nach den "Gepflogenheiten"
des Dschungels zu bewegen.
III.5. Zusammengefasst sind
die Machthabenden in Berlin tatsächlich auch Machthabende, aber nur in dem
Rahmen, den ihnen die deutschen Gesetze vorschreiben. Sie können nicht
willkürlich und uneingeschränkt handeln, wie das die Machthabenden in einer
Einparteienherrschaft mit Machtmonopol tun. In einem Umfeld, in dem die
Menschenrechte durch das Recht geachtet und geschützt werden, in dem
Rechtsanwälte Respekt genießen und dessen würdig sind, in dem Gerichte gerecht
und genau nach den rechtlichen Vorgaben urteilen, kann die deutsche Regierung
nicht willkürlich dem Auslieferungsbegehren der vietnamesischen Regierung gegen
TXT nachkommen. Da Deutschland noch zahlreiche andere Fälle abzuarbeiten hat,
die in der zeitlichen Abfolge vorrangig und oft viel schwerwiegender sind als
der von TXT, muss Vietnam selbstverständlich warten, so dass die deutschen
Kollegen das Verfahren entsprechend der gesetzlich vorgeschriebenen Abläufe
durchführen können. Es ist bedauerlich, dass nach den Anschuldigungen durch
Deutschland, Vietnam nicht abgewartet, sondern TXT aus der Mitte von Berlin
nach Hanoi entführt hat. Falls das tatsächlich zutrifft, ist das ein
inakzeptabler Vorgang, denn er verstößt eklatant gegen deutsches Recht, gegen
internationales und auch gegen vietnamesisches Recht.
IV. Welche Rettung ist möglich?
Der Generalsekretär der KPV Nguyễn Phú Trọng erklärte
siegessicher: "Trịnh Xuân Thanh ist ins
Ausland geflohen. Wir haben einen internationalen Haftbefehl erlassen und
werden alles dafür tun, ihn festzunehmen. Er kann uns nicht entkommen." Tatsächlich
hat man TXT schließlich festnehmen können, und zwar auf diese Weise. Nach
errungenem Sieg brachte der Generalsekretär begeistert einen bildlichen
Vergleich: "Wenn der Ofen richtig heiß
ist, brennt auch frisches Holz". Ja, nachdem "das
ganze politische System zum Einsatz gekommen war"... den Ofen
anzuzünden, brennt nun alles. Allerdings brennt nicht nur das trockene und das
frische Holz, sondern es brennt das ganze Haus. Führt die strikte Befolgung der
Devise "die Ratte zu töten, ohne die
Vase zu zerschlagen" dazu, dass man "die
Vase erhält" indem man das Haus anzündet, um "die Ratte zu
töten"?
Während das Haus brennt, verfällt der gesamte
Apparat in Stillschweigen, statt sich ans Löschen zu machen. Gleichzeitig
machen sich Kräfte "der spontanen Volksmasse" reihenweise
daran, weiter Öl ins Feuer zu gießen. Mit haltlosen Vorwürfen und
Anschuldigungen gegen Deutschland tragen sie dazu bei, dass die ohnehin
angespannte Situation noch schwieriger wird.
Das Ansehen der SR Vietnam in der
Bundesrepublik Deutschland und in der Europäischen Gemeinschaft war noch nie so
stark beschädigt wie im Moment. All die diplomatischen Anstrengungen der
vergangenen Jahrzehnte, dem System ein angenehmes Äußeres zu verschaffen,
wurden mit einem Handstreich zunichte gemacht.
Die wirtschaftlichen, politischen und
diplomatischen Folgen sind unabsehbar. Es ist irrational, dass ganze Berge von
Geld eingesetzt werden, um einen riesigen Kontrollapparat zu unterhalten, der
im ganzen Jahr nur ein paar Fälle von Korruption und falschen Vermögensangaben aufdeckt.
Diesmal, im Falle von TXT, werden im Namen der Korruptionsbekämpfung Schäden
angerichtet, die um ein Vielfaches höher sind, als die Auswirkungen der von TXT
verantworteten Korruption. Wozu also das Ganze? Vielleicht nur, um dem
Ehrgefühl des Herrschers Genüge zu tun?
Was ist zu tun in dieser sehr schwierigen
Situation? Im Folgenden werden vier Lösungsvarianten aufgezeigt, die alle
Beteiligten konsultieren können.
IV.1. Entschluss zur Ehrlichkeit
Für den Fall, dass eine Entführung von TXT
nicht stattgefunden hat, muss man sich natürlich für die
Theorie "TXT hat ein Geständnis abgelegt" entscheiden.
Will man allerdings den Vorwurf von deutscher Seite über die Entführung von TXT
zurückweisen, dann muss man unumwunden erklären, dass es keine
Entführung von TXT gegeben hat. Es reicht nicht, den Begriff der "Entführung"
zu meiden und nur zu sagen, "TXT hat ein Geständnis abgelegt".
Denn wenn TXT entführt worden und nun in Vietnam inhaftiert ist, dann ist sein
Anerkenntnis, er habe "ein Geständnis abgelegt", natürlich die
einfachste Lösung.
IV.1.a. Das Schlechte ist, dass
selbst für den Fall, dass es kein Kidnapping gegeben hat, entgegen den
Beteuerungen der vietnamesischen Regierung viele Vietnamesen den
Anschuldigungen Deutschlands Glauben schenken. Nicht etwa, weil sie westlich
orientiert sind, sondern weil unser Volk zu lange und zu oft die Lügen unserer Herrscher
schlucken musste. Das ist der Preis, der für inflationäres Lügen zu zahlen ist.
Mehr noch, die Angewohnheit der vietnamesischen
Machthaber, rowdyhaft zu handeln, ist nicht unbekannt. Immer
dann, wenn den Bürgern Land geraubt wird, wenn eine patriotische Demonstration zu
unterdrücken oder Aktivisten für demokratische Freiheiten in Schach zu halten
sind, werden rowdyhafte Maßnahmen
verwendet. Entweder man mobilisiert echte Kriminelle und erklärt
dann, das seien "spontane Reaktionen der Volksmasse”, oder man
lässt Polizisten in die Rollen von Kriminellen schlüpfen. Oftmals bedarf es aber
des Rollenspiels gar nicht. Unter ihnen finden sich einige, die auf Grund ihrer
Entwicklung zu Kriminellen geworden sind, andere wurden dazu ausgebildet, und
wiederum andere waren schon kriminell, bevor sie in die Reihen der Polizei
aufgenommen wurden. Diese Kriminellen haben ein geringes Bildungsniveau und benehmen
sich anmaßend. Insofern würde es nicht verwundern, wenn solche Leute die
Entführung von TXT aus Deutschland realisiert hätten.
Vor kurzem erst, am 15.4.2017 lockten in der Gemeinde Đồng Tâm (Kreis Mỹ Đức,
Stadt Hanoi), einige Kerle mit Offizierssternen der Streitkräfte, die sich
Volksstreitkräfte nennt, Herrn Lê Đình Kình (82 Jahre alt, seit 55 Jahren Mitglied
der KPV) aufs Feld, angeblich um die Grundstückspfähle zu bestimmen. Plötzlich
traten sie auf ihn ein und brachen ihm ein Bein. Sie warfen ihn wie ein Tier
auf ein Fahrzeug, legten ihm Handschellen an und knebelten ihn. Dann fuhren sie
50 km nach Thiền-Quang-Straße 7. Als der Mann über Schmerzen in dem gebrochenen
Bein klagte, brachte ihn die Polizei in die Armeeklinik 108, beschuldigte ihn
aber als einen "wegen Störung der öffentlichen Ordnung Festgenommenen",
damit niemand ihn medizinisch behandelt. Wenn ein bescheidener, aufrichtiger
und konstruktiver Mensch wie Lê Đình Kình, nur weil er sich gegen Korruption
wendet, betrogen, entführt und auf diese Weise behandelt wird, ist die
Entführung eines korrupten Mannes wie TXT nichts Verwunderliches mehr.
IV.1.b. Den Machthabern in
Hanoi stellt sich das Problem, Beweismittel zu finden, die auch die Skeptiker
überzeugen. Das Vorzeigen des "Geständnisses" von
TXT ist nur für wenige überzeugend. Worauf soll sich denn der Glauben stützen,
dass dieses Schriftstück tatsächlich von TXT verfasst ist? Die Schrift? Vietnamesen
bekommen üblicherweise nur die Schriftzüge von Hồ Chí Minh zu sehen, mit etwas
Glück vielleicht noch von Lê Duẩn, Trường Chinh, Phạm Văn Đồng, Võ Nguyên Giáp…
Selbst die Schriftzüge des aktuellen Generalsekretärs der Partei sind ihnen fremd,
woher also sollten sie die von TXT kennen? Auch unter den Leuten, die unter TXT
gearbeitet haben, findet sich in Zeiten, in denen Schriftstücke von Assistenten
am Computer verfasst und vom Chef nur noch unterzeichnet werden, kaum jemand,
der in den Genuss gekommen wäre, die Handschrift des Chefs mit eigenen Augen zu
sehen. Will man die Herkunft des Geständnisschreibens an den sprachlichen Anzeichen
für geringe Bildung festmachen, dann ist das noch weniger überzeugend. Innerhalb
der Führungsriege ist TXT keineswegs der einzige mit geringer Bildung.
Deshalb sollte man lebendige Bilder als
Beweismittel veröffentlichen. Das kurze, in der Nachrichtensendung
von VTV1 am 3.8.2017, um 19 Uhr veröffentlichte Video kann
die Vorwürfe der Entführung nicht entkräften. Jemand, der die Absicht hat, sich
zu stellen, fürchtet nichts mehr als die Ermordung durch seine Komplizen. Daher
sollte er, wenn er sich aus eigenem Antrieb und erfolgreich gestellt hat, vom
Sicherheitsapparat geschützt wird und wegen des freiwilligen Geständnisses
Vorrechte genießt, frisch und entspannt wirken, nicht so angespannt und
erschöpft, wie TXT das tut.
Sofern TXT sich spontan und ohne vorherige Absprache
überlegt haben sollte, sich zu stellen, so wäre die Grenzüberquerung und
Einreise nach Vietnam (bei vorliegendem Haftbefehl) noch um ein Vielfaches
komplizierter als seine vorangegangene Ausreise aus Vietnam (als es den
Haftbefehl noch nicht gab). Um es geradeheraus zu sagen, es ist unmöglich, dass
TXT ganz normal eingereist sein und sich dann "bei der Strafabteilung der
ermittelnden Sicherheitsbehörde des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit
gestellt" haben könnte. Deshalb müsste
TXT ganz bestimmt Vertreter einer Organisation getroffen haben, um von denen
dann zurückgebracht zu werden. Und diese Organisation hätte dann ganz gewiss
auch die Möglichkeiten gehabt, die Verhandlungen zur Beweisführung als Video
aufzunehmen. Die Einreise nach Vietnam wäre dann vermutlich nicht mit
Trommelwirbel und gehissten Fahnen wie beim Einmarsch der Olympiamannschaft
erfolgt, aber die Einreise und die Fahrt vom Flughafen bis zur Strafabteilung der ermittelnden
Sicherheitsbehörde des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit wäre
doch wohl mit einer Kamera festgehalten worden, um die freiwillige Rückkehr zu
dokumentieren. Dabei sprechen wir noch nicht von den Stempeln, die bei Ausreise
in den Reisepass gedrückt worden sein müssten, wenn TXT Deutschland tatsächlich
auf legalem Wege verlassen haben sollte. All diese Materialien sollten
veröffentlicht werden, um der Aufregung entgegenzutreten.
In
dem "Geständnisschreiben", schreibt
TXT:
"Von
Familie und Freunden ermutigt bin ich nach Vietnam zurückgekehrt und habe mich
bei der ermittelnden Sicherheitsbehörde mit einem Geständnis gestellt, um Strafmilderung
durch Partei und Regierung und die Justiz zu erlangen."
Wenn das zuträfe, dann stünde nicht nur TXT
Strafmilderung zu, sondern darüber hinaus wären seine Familie und seine Freunde
des Lobes wert. Die geringste Auszeichnung wäre es dann, TXT den Besuch seiner
Ehefrau, seiner Kinder und seiner Eltern zu erlauben, mit denen er sich voller
Rührung in den Armen liegen würde (unter der strengen Kontrolle der
Sicherheitsbeamten, so dass es keinen Grund für Befürchtungen gibt). Sofern
seine Ehefrau und seine Kinder nicht nach Vietnam kommen könnten, könnte man
Aufnahmen von einem Interview mit diesen im Ausland machen. Das wäre umso
besser, würde es doch Denunziationen entkräften, nach denen das Ganze ein im
großen Gefängnis erdachtes Spektakel ist. Filmaufnahmen hätten nur positive
Aspekte und ganz sicher keine negativen Auswirkungen auf die weitere
Prozessführung. Wichtig wäre, dass lebendige Ausschnitte aufgenommen worden
sind, die im vietnamesischen Fernsehen gezeigt werden können. Warum nicht?
Die größte Stolperfalle bilden die Reaktionen
der deutschen Rechtsanwälte. Bis zum Schluss hatte TXT denen gesagt, dass er
sich niemals freiwillig den
vietnamesischen Behörden stellen würde, da er genau wisse, dass er aus
politischen Gründen kein faires Verfahren zu erwarten habe. Hätte
TXT unvermittelt seine Meinung geändert und vorgehabt, in Vietnam ein
Geständnis abzulegen, dann hätte er den anwälten zumindest vorher mitteilen
müssen, dass er auswärts zu tun habe und seine Mandantschaft niederlegen wolle,
hätte mit ihnen abgerechnet und den Anwaltsvertrag beendet. Er hat aber nichts
dergleichen gesagt, hat die Anwaltsgebühren nicht beglichen und ist verschollen.
Sollte er absichtlich die Anwälte um ihre Honorare gebracht haben? Aber sein
Vermögen befindet sich immer noch in Deutschland. Wie könnte er da einfach
verschwinden? Da er das nicht kann, hätte er doch, bevor er aktiv und selbstbestimmt
Deutschland verlässt, den Anwälten die Vertragskündigung mitteilen müssen, um
ein kostenaufwendiges, nutzloses Weiterlaufen der Verträge zu vermeiden. Es
geht um Eurobeträge, nicht um Muschelschalen. Ein habgieriger Mensch, dessen
Zeit abgelaufen war, und dann findet er nicht einmal mehr Zeit, die Verträge zu
kündigen, bevor er… entführt wird. Um solche unerfreulichen Gedankengänge zu
unterbinden, wäre es die einfachste und beste Lösung, Frau Petra Isabel
Schlagenhauf zusammen mit den anderen Anwälten nach Vietnam einzuladen, um ein
Gespräch mit TXT zu führen. Dann könnte man diese Gespräche aufzeichnen und im
Fernsehen ausstrahlen. Das wäre alles.
Hätte man sofort ein paar Videoausschnitte
vom Ablauf der Rückreise von TXT und dem Ablegen seines Geständnisses
veröffentlicht, anschließend sein Zusammentreffen mit ihm nahestehenden
Personen sowie Gespräche von ihm mit seinen Anwälten aufgenommen und
veröffentlicht, dann hätten viel mehr Leute dem Glauben geschenkt. Wenn
aber auch nur eine dieser drei Varianten fehlt, ist es schwer, letzte Zweifel
auszuräumen.
Eigentlich ist der Überzeugungswert solcher
Videos gar nicht sehr hoch. Denn wenn TXT sich erst einmal in vietnamesischer
Haft befindet, dann muss er natürlich alles tun, was die Polizei ihm abverlangt,
Familie und Freunde müssen "kooperieren", um das Strafmaß von
TXT auf ein Minimum zu reduzieren. Obwohl das so ist, wäre das Vorliegen
solcher Filme doch allemal besser. Je länger Vietnam sich in Stillschweigen
hüllt, desto mehr wird die Öffentlichkeit argwöhnen, dass auf Zeit gespielt
wird, um an Lügengespinsten zu basteln. Deshalb muss das Zaudern nun ein Ende
haben. Falls es tatsächlich keine Entführung von TXT gegeben haben sollte,
müssen nun unverzüglich die o.g. Videos präsentiert werden, um die Unschuld zu
beweisen.
IV.2. Entschluss zur Lüge
Für den Fall, dass TXT entführt worden ist, ist der
Entschluss, zu behaupten, "TXT habe sich selbst gestellt" allemal
am einfachsten zu verfolgen. Die Behauptung ist einfach, weil sie das eigene
Selbstbild am besten widerspiegelt und weil sie der eigenen Tradition und den
Erfahrungen am besten entspricht.
IV.2.a. Selbst wenn man
gleich zu Beginn beschließt zu lügen, müssen doch die an der Umsetzung
Beteiligten verstehen, dass der Verhandlungstisch kein Ort ist, an dem beide
Seiten darin wetteifern, einander zu betrügen. Deshalb gehört
Fingerspitzengefühl dazu, zu entscheiden, bis zu welchem Grade man lügen kann. Um
eine geeignete Grenze festzulegen, muss man sich über die verschiedenen Grade
der Lügenbereitschaft in den beiden Kulturen bewusst sein. Auf beiden Seiten
wird gelogen, insbesondere in der Politik, wo das Lügen eine internationale
Gewohnheit geworden ist. Aber die Niveaus sind sehr verschieden, nicht nur in
Bezug auf die Häufigkeit der Lüge, sondern auch auf psychologische Merkmale der
Lüge. Die eine Seite lügt, wenn das notwendig ist, sie lügt und fürchtet dann,
dass die Lüge aufgedeckt werden könnte. Die andere Seite lügt auch, wenn das
nicht nötig wäre oder wenn man es nicht tun sollte, nämlich um sich den Spaß zu
erkaufen, später damit hausieren zu gehen, um zu zeigen, dass man selbst
schlauer, gerissener ist als die andere Seite. Die eine Seite ist das ganze
Jahr überwiegend sehr gewissenhaft und hat sich deshalb den ersten April
geschaffen, um einmal im Jahr die Gelegenheit zu haben, sich ein wenig mit
Lügen zu erfreuen. Die andere Seite lügt das ganze Jahr und sollte daher
eigentlich einen Tag im Jahr einführen, an dem man ganz ohne Lügen auskommt, um
sich in Ernsthaftigkeit zu trainieren. Aber stattdessen wird auch hier der
erste April importiert, um noch ausgelassener lügen zu können. Sofern man sich
nicht dieser Differenzen bewusst ist, könnte man glauben, es sei eins zu eins
wenn beide Seite lügen. Wenn man als Repräsentant einer Seite, die sich
schuldig gemacht hat, den Grad der Ernsthaftigkeit und des Wissens der
Gegenseite nicht richtig einschätzt und über Gebühr lügt, dann wird man den
Zorn der Gegenseite noch weiter anfachen.
IV.2.b. Beim Streit sollte
man nicht annehmen, die Deutschen wüssten nicht, worum es geht. Sie
ermitteln sehr geschickt und sind sehr vorsichtig und zurückhaltend in ihren
Äußerungen. Gewöhnlich lassen sie nur einen kleinen Teil dessen erkennen, was
ihnen bekannt ist, im Sinne einer Warnung. Den anderen Teil verwahren sie gut
als Beweismaterial, um ihr Gegenüber einzuschätzen, und um im gegebenen Falle
auf einen Beweismittelvorrat zurückgreifen zu können, der zum Einsatz kommt,
wenn es jemanden zu entlarven gilt. Wenn jemand das nicht glaubt, soll er doch
die vielen Vietnamesen nach ihren Erfahrungen fragen, die in den 1990er Jahren
auf Deutschlands Straßen herumbummelten und Zigaretten verkauften. Damals
beantragten Vietnamesen Asyl in verschiedenen Asylbewerberheimen unter mehreren
falschen Namen. In je mehr Asylheimen man angemeldet war, desto mehr
Unterstützungsleistungen konnte man beziehen. Und jedes Mal, wenn man beim
illegalen Zigarettenverkauf festgenommen wurde, konnte man eines der Pseudonyme
angeben zusammen mit dem dazugehörigen Asylheim. Egal, welcher Name angegeben
wurde, die deutsche Polizei schrieb ihn kommentarlos auf. Als man sich aber
nach etlichen Jahren auf diese Weise wohlig eingerichtet hatte und Deutschland
das Rückübernahmeabkommen mit Vietnam unterzeichnet hatte, nahm Deutschland die
Leute einen nach dem anderen fest. Man fragte nach dem Namen wie sonst auch. Nachdem
man die Antwort vernommen hatte, brachte man in aller Ruhe vor: Nein, Ihr
wahrer Name und Ihre Anschrift lauten wie folgt, geben Sie das zu! Damit war
das Spiel aus. Deshalb glauben Sie nicht, wenn Ihr Gegenüber sich still anhört,
was Sie erzählen, dass Sie ein besonders talentierter Lügner sind, und fahren
in Ihren Geschichten fort, um zu beweisen, dass Sie ein Lügner sind.
Um das Spiel der deutschen Seite mit
verdeckten Karten im Fall TXT zu illustrieren, lässt sich das Beispiel des
Tatfahrzeugs angeben, das in Prag, also 430 km vom Tatort entfernt, angemietet
worden war. Nach Pressemitteilung von Rechtsanwältin Petra
Isabel Schlagenhauf wurde TXT am 23.7.2017, gegen 10.30 Uhr entführt, als er im
Tiergarten in Berlin spazieren ging, und die Berliner Polizei nahm am 24.7.2017 die Ermittlungen in dieser Sache
auf. Nach Herrn Bùi Quang Hiếu (dem Vermieter
des Wagens), kam die Polizei am 28.7.2017 (also 4 Tage nach Aufnahme der Ermittlungen)
zu ihm, befragte ihn und beschlagnahmte das Fahrzeug. Da
das Fahrzeug gegen Diebstahl versichert war, hatte das GPS die gesamte von dem
Auto zurückgelegte Strecke aufgezeichnet und gespeichert. Daher lässt sich
sagen, dass die Ermittlungsbehörde bis zum 28.7.2017 bereits recht gut über
Charakter und Ablauf der Entführung im Bilde war. Aber erst am 4.8.2017 (also 7 Tage nach
Beschlagnahmung des Fahrzeugs), wurde die Nachricht über das mit GPS
ausgestattete Tatfahrzeug an die Presse weitergegeben. Vermutlich
musste die deutsche Seite, nachdem das Auswärtige Amt der BRD am 2.8.2017 eine Presseerklärung
herausgegeben hatte, in deren Folge die vietnamesische Seite aber nicht den
Anschein machte, etwas zugeben zu wollen, die Information über das Tatfahrzeug
nachschieben, um zu warnen.
Allerdings wussten die Entführer spätestens
seit dem 28.7.2017, als sowohl der Vermieter als auch der Mieter des Wagens
durch die Polizei befragt und das Auto konfisziert worden waren, dass sie
entdeckt waren. Und möglicherweise war das nicht das einzige Anzeichen für ihre
Entdeckung. Denn am 25.7.2017 (also 3 Tage vor der Beschlagnahme des Autos),
hatte die Polizei Frau Petra Isabel Schlagenhauf mitgeteilt, es bestünden kaum
Zweifel, dass der vietnamesische Geheimdienst einen Landsmann entführt hätte,
mitten in Berlin. Es
fragt sich, ob die Tatsache, dass das Ministerium für Öffentliche Sicherheit am
31.7.2017 plötzlich die Nachricht brachte, dass "TXT sich gestellt"
habe, eher durch die aufgedeckten Einzelheiten (in Deutschland und Tschechien)
verursacht war oder durch die Frage "Trịnh Xuân Thanh ist zurück,
und die Presse verfällt in Schweigen?" die
Huy Đức am 30.7.2017 öffentlich gestellt hatte. Einige Personen beschuldigen Huy
Đức, er habe ein Staatsgeheimnis ausposaunt und die Regierung in eine
schwierige Lage gebracht, so dass diese eilig bekannt geben musste, "TXT
habe sich gestellt". Es sei darum nicht genug Zeit gewesen, eine
Dramaturgie zu entwickeln, was dem Land sehr geschadet habe. Die Entführung von
TXT wird verteidigt. Das Aufdecken des Fakts, dass "TXT zurückgekehrt"
ist, wird angeklagt, dem, der es getan hat, wird die Verantwortung zugeschoben.
Ist das gerecht?
IV.2.c. Das wichtigste vor
dem Entschluss zur Lüge ist, sich darüber klar zu werden, wie lange dieser
Entschluss aufrechtzuerhalten ist. Die Deutschen haben das Sprichwort: "Lügen
haben kurze Beine". Das heißt, wenn man lügt, wird die Wahrheit früher
oder später doch ans Licht kommen. Wenn man es später aber sowieso wird zugeben
müssen, ist es dann nicht besser, dies gleich zu tun?
Man ist immer noch unentschlossen,
möglicherweise aus Angst vor einem Gesichtsverlust. Für diejenigen, die längst
enttäuscht worden sind, hat die staatliche Führung kein Gesicht mehr, um dessen
Verlust sie sich sorgen müsste. Aber für Millionen von Menschen, die sich noch
immer an den undichten Rettungsring des Glaubens klammern, um ihr eigenes Leben
zu rechtfertigen, wird ein Gesichtsverlust der Führung einen Glaubensverlust
bedeuten, so dass ein Bruch kaum zu vermeiden ist. Das schmerzlichste sind diejenigen, die nicht nur glauben,
sondern auch all ihre persönliche Reputation mit einbringen, um den Ruf der
Partei zu verteidigen. Das Bedauerliche ist, dass ein System, dass
sich auf einen irrationalen Glauben gründet, nicht von Dauer sein kann.
IV.3. Aufrichtige Reue
Weiterhin im Falle der Entführung von TXT sollte
man nach diesem Konzept beizeiten seinen Fehler eingestehen. Das
Benennen des tatsächlich Verantwortlichen ist vermutlich nebensächlich. Denn
vielleicht hat die deutsche Seite auch nicht die Absicht, bis zum Ende zu
verfolgen, wenn man denkt, dass es sich um die höchste Stelle handelt. Wichtiger
ist, aufrichtig anzuerkennen, dass das realisierte Vorgehen falsch war, und
sich dafür rückhaltlos zu entschuldigen.
IV.3.a. Das
Anerkenntnis und die Entschuldigung sind aber noch nicht genug. In der Pressemitteilung des
Auswärtigen Amtes vom 2.8.2017 verlangt Deutschland von Vietnam weder eine
Fehleranerkennung noch eine Entschuldigung, sondern klagt unumwunden "den
präzedenzlosen und eklatanten Verstoß gegen deutsches Recht und gegen das
Völkerrecht" an und stellt gleichzeitig eindeutig fest:
"Die
Bundesregierung verlangt, dass Herr Trinh Xuan Thanh unverzüglich nach
Deutschland zurückreisen kann, damit der Antrag auf Auslieferung und der Antrag
auf Asyl jeweils in einem rechtstaatlichen Verfahren zu Ende geprüft werden
können."
Das heißt, die deutsche Regierung fordert
Vietnam auf, "Herrn Trịnh Xuân Thanh nach Deutschland zurückkehren"
zu lassen, natürlich auf seinen eigenen Wunsch hin.
Es ist bedauerlich und nicht ganz sicher, ob
aus Versehen oder beabsichtigt, dass einige Zeitungen schreiben, dass "Deutschland verlangt, Vietnam solle Herrn Trịnh
Xuân Thanh (Deutschland) zurückgeben". Der
Begriff der "Rückgabe" verleitete einige Leute zu der
irrtümlichen Diskussion, dass TXT doch Vietnamese sei, weshalb dann Deutschland
eine so unsinnige Forderung aufstelle, Vietnam solle ihn Deutschland "zurückgeben".
Natürlich kann Vietnam ein Video vorführen,
in dem TXT erklärt, dass er freiwillig nach Vietnam zurückgekehrt ist und nicht
wieder nach Deutschland ausreisen will. Da aber Deutschland verlautbart hat,
dass die planvolle Entführung von TXT inmitten der Hauptstadt Berlin "einen
extremen Vertrauensbruch" darstellt, wird man nicht an die
Wahrhaftigkeit dieses Videos glauben. Man wird dem nur dann Glauben schenken,
wenn TXT nach Deutschland zurückkehren kann und auf freiem Grund stehend, in
einer Situation ganz ohne Einflussnahme erklärt, dass er den Asylantrag
zurückzieht und freiwillig nach Vietnam geht, um dort ein Geständnis abzulegen.
Wenn Deutschland dies verlangt, auf welcher Grundlage kann Vietnam das
zurückweisen?
Deshalb muss die vietnamesische Regierung, um
ihre Aufrichtigkeit du Rückhaltlosigkeit zu beweisen, die Forderung der
deutschen Regierung akzeptieren, "Trịnh Xuân Thanh sofort nach
Deutschland zurückkehren" zu lassen. Nur dann wird die deutsche
Seite an die Ehrlichkeit der vietnamesischen Seite glauben.
Der Grund, weshalb Deutschland fordert und
auch weiterhin fordern wird, dass "Trịnh Xuân Thanh nach Deutschland
zurückkehren" darf, liegt nicht darin, dass Deutschland das Vertrauen
in den "strategischen Partner" wiederherstellen will, sondern
dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das durch die Entführung verletzt worden
ist, soll wieder Geltung verschafft werden, und dem deutschen Volk soll gezeigt
werden, dass die deutsche Regierung die richtigen Schlüsse gezogen hat und
nicht halbherzig handelt. So werden sowohl die Prinzipien gewahrt als auch das
Ansehen der deutschen Regierung geschützt.
IV.3.b. Falls die
Forderungen der deutschen Regierung akzeptiert werden, müssen sich die
Machthaber in Hanoi mit den Fragen der vietnamesischen Öffentlichkeit
herumschlagen: Warum wird ein Angeklagter freigelassen, der mit Haftbefehl
gesucht wurde und den zu stellen sehr viel Zeit und viele Anstrengungen brauchte?
Man wird sich eine Erklärung einfallen lassen müssen für die hocherfreuten
Bürger, die die Festnahme von TXT für einen großen Erfolg im Kampf gegen die
Korruption unter der großartigen Führung des Generalsekretärs halten.
Möglicherweise gibt es keinen anderen Weg als
dass die vietnamesische Regierung offiziell gegenüber ihrem Volk eingesteht,
dass diese Art der Verhaftung von TXT falsch war, dass sie das deutsche, das
internationale und sogar das vietnamesische Recht verletzt hat. Das Ergebnis
eines Rechtsbruchs kann man nicht als Erfolg bewerten, weshalb man es nun
nivellieren muss, indem man vorübergehend TXT frei lässt, um die negativen
Folgen des Rechtsbruchs zu überwinden, und anschließend eine erneute Festnahme
in Angriff nimmt, die in Übereinstimmung steht mit den juristischen Bestimmungen.
IV.3.c. Sicherlich fürchtet
die vietnamesische Regierung, dass ein solches Vorgehen gleichbedeutend wäre
damit, einen Tiger im Wald auszusetzen: Man wird seiner nicht wieder habhaft
werden. Das ist realistisch. Wenn TXT nach seiner Rückkehr nach Deutschland den
Asylantrag nicht zurückzieht, sondern das Asylverfahren aus politischen Gründen
weiter betreibt, dann ist die Chance, dass sein Antrag auf Asyl anerkannt wird,
sehr hoch. Ganz einfach, weil die Machthabenden in Hanoi TXT unfreiwillig
geholfen haben nachzuweisen, dass dem Haftbefehl gegen TXT politische Elemente
anhaften. Und selbst wenn dem Asylantrag nicht stattgegeben würde, wäre eine
Auslieferung schwer vorstellbar. Warum? Durch die freche Entführung mitten aus
der Hauptstadt Berlin liegen den Anwälten ausreichend Beweise in Händen, um die
politischen Elemente des Prozesses nachzuweisen und zu schlussfolgern: Es kann
nicht gewährleistet werden, dass TXT in einem fairen Verfahren, auf Grundlage
der gesetzlichen Bestimmungen abgeurteilt wird, wenn dies durch einen
Staatsapparat erfolgt, der bereit ist, das deutsche Recht auf so plumpe Weise
zu missachten. Aus den beiden genannten Gründen kann keine Kraft der Welt die
deutschen Anwälte vor einem deutschen Gericht besiegen. Und dann wird TXT nicht
von Deutschland an Vietnam ausgeliefert werden.
Wenn das Endergebnis so aussieht, dann hat
das einen schlechten Einfluss auf das Ansehen der vietnamesischen Herrschenden.
Allerdings wird der Schaden nicht allzu groß sein. Die Informationen, die für
die anhängigen Verfahren in Vietnam herauszufinden und zu dokumentieren sind,
wird man bekommen haben, bevor TXT nach Berlin zurückkehren kann. Die Abreise
von TXT aus Vietnam wird sogar die Gefahr verringern, dass er zu viel aussagt, dass
er die "Erfolge" der Genossen der "eigenen Fraktion"
zur Sprache bringt. Wichtig ist auch, dass die Entscheidung, TXT nicht
auszuliefern, ein eindrucksvoller Beweis sein wird, dank dessen die
Machthabenden in Vietnam die Entführung im Nachhinein rechtfertigen können: Seht
ihr? Es gab gar keinen anderen Weg, als nach Deutschland zu gehen und den
Verbrecher TXT von dort zu entführen.
IV.3.d. Für Deutschland wäre
es ein Erfolg, wenn TXT aus der Haft entlassen würde und nach Deutschland
zurückkehren könnte, sowohl ein diplomatischer als auch ein juristischer
Erfolg. Der Sicherheitsapparat würde weniger in der Kritik stehen, miserabel zu
arbeiten und dem Geheimdienst eines kommunistischen Staates die Möglichkeit zu
geben, aus der Mitte der Hauptstadt einen Menschen zu kidnappen. Allerdings
würde man wohl nach erstem Frohlocken nicht recht wissen, was anfangen mit
seiner Beute. Ursprünglich ist TXT in Deutschland ein Unbekannter, erst durch
die Entführung ist sein Name in aller Munde, und dadurch ist sein Fall schwer
zu händeln. Allein TXT durchzubringen wäre kein Problem, aber wenn nun all die
korrupten kommunistischen Beamten glauben, das sei ein einladender Wink und,
sobald ihnen der Prozess gemacht wird, sich nach Deutschland absetzen, was
dann? Nun, dann sind sie kein Faktor, vor dem sich die deutsche Gesellschaft
fürchtet wie vor den Terroristen des IS, aber die deutsche Regierung wird es
nicht mögen, immer wieder Auslieferungsbegehren der "Sieger von 1975"
bearbeiten zu müssen. Und was soll man tun, wenn es dann immer mal wieder
eine Entführung aus Deutschland geben wird, weil Auslieferungsbegehren nicht
schnell genug nachgekommen wird?
Wenn eine Auslieferung möglich ist, dann ist
man eine Last los. Das Furchtbare ist aber, dass man schwer gegen die Anwälte ankommt,
und dass man bei einer Auslieferung auch am Gericht nicht vorbeikommt. Und wenn
man schließlich TXT in Deutschland politisches Asyl gewähren muss, wird man
nicht nur von der Regierung, sondern auch von der öffentlichen Meinung Vietnams
kritisiert werden, Verbrechern Unterschlupf zu gewähren. Selbst wenn TXT Deutschland
verlassen und sich in irgendeinem anderen Land verstecken sollte, würde
wahrscheinlich Vietnam Deutschland beschuldigen, irgendwo in Deutschland einen
Verbrecher unter falschem Namen zu verbergen. Auf diese Weise würde von dem
anfänglichen Frohlocken nichts bleiben als ein schales Gefühl.
IV.4. Wille zum gemeinsamen Sieg
In diesem Teil betrachten wir weiter den
Fall, dass TXT entführt wurde, und die vietnamesische Seite aufrichtig anerkennt,
dass das realisierte Vorgehen falsch war, und sich dafür rückhaltlos
entschuldigt. Anders als bei Konzept IV.3 lässt die vietnamesische Seite nicht
"Trịnh Xuân Thanh sofort nach Deutschland zurückreisen".
Wie sollte die deutsche Seite damit umgehen? Eine akzeptable Lösung wäre es, recht
bald ein Gerichtsverfahren gegen TXT in Vietnam anzuberaumen unter Beobachtung
durch Vertreter der deutschen Regierung, unter Einbeziehung von deutschen
Verteidigern und unter Anwesenheit der deutschen Presse, die davon berichtet.
Das ist ein realistischer Lösungsansatz.
Die deutsche Regierung macht im wesentlichsten und kompliziertesten Punkt
Zugeständnisse, deshalb sollte sie im Gegenzug das Recht erhalten „die
Beobachtung“ des Prozesses gegen TXT „durch Vertreter der deutschen
Regierung, die Einbeziehung von deutschen Verteidigern und die Anwesenheit der
deutschen Presse, die davon berichtet“ zu fordern. Die vietnamesische
Regierung hat einen Verstoß begangen, daher wäre eine solche Lösung mehr als
billig und wesentlich besser als die Notwendigkeit, "Trịnh Xuân Thanh sofort
nach Deutschland zurückreisen zu lassen".
Im Übrigen gibt es, wenn weiterhin betont
wird, es werde ein faires und öffentliches Verfahren geben, keinen vernünftigen
Grund, weshalb Vietnam die Einbeziehung deutscher Rechtsanwälte und die
Anwesenheit der deutschen Presse ablehnen könnte. Und wenn man tatsächlich
nicht die Absicht hat, die Menschenwürde des Angeklagten zu beschädigen, warum
sollte man dann die Beobachtung des Prozesses durch Vertreter der deutschen
Regierung ablehnen? Genau genommen sollte Vietnam in dieser Situation die
deutsche Regierung aktiv einladen, Vertreter als Beobachter zum Prozess zu
entsenden, um die diplomatischen Spannungen zu vermindern und aufzuzeigen, dass
das Verfahren auf gerechte Weise abläuft.
Dies wäre ein Konzept, nach dem alle
Seiten einen Nutzen davontragen (win-win). Um das deutlich zu
machen, werden wir nachfolgend die einzelnen Siege jeder Seite untersuchen.
IV.4.a. Für die vietnamesische Regierung ist
das der beste Weg für den Fall, dass TXT entführt worden ist. Im Rahmen dieses
Artikels und in diesem Falle bedeutet "der beste" besser als
der "Entschluss zur Lüge" (behandelt in Teil IV.2) und als die
"aufrichtige Reue" (behandelt in Teil IV.3).
Es ist tatsächlich so, für die vietnamesische
Regierung ist dieses Vorgehen eindeutig wesentlich besser als das Konzept der "aufrichtigen
Reue", nach dem man sich darauf einlassen müsste, "Trịnh Xuân
Thanh sofort nach Deutschland zurückreisen zu lassen". Und wenn man
sich für das "Konzept des Entschlusses zur Lüge" entschiede, würde
dies ganz sicher am Ende aufgedeckt werden. Das führte zu großen Peinlichkeiten
und zu schwerwiegendem Gesichtsverlust sowohl im Inland als auch auf
internationaler Bühne.
Ein Vorteil dieses Konzeptes wäre es, dass
man Verlauf und Ergebnis der Verhandlungen geheim halten könnte. Insofern
könnten Propagandaapparat und Presse Dank der hellsichtigen, geschickten
Führung durch die Parteiführung weiterhin das Lied singen "wir siegen,
und der Feind verliert". Natürlich müsste die deutsche Seite einige
inhaltliche Punkte veröffentlichen, um den Forderungen der deutschen
Öffentlichkeit nachzukommen. Man müsste aber nur einige Zugänge zum Internet
sperren und verbieten, dass Presse und Rundfunk im Inland darüber berichten,
und könnte so mehreren Millionen Bürgern ihren angenehmen Schlaf erhalten.
IV.4.b. Auch für die
bundesdeutsche Regierung wäre das möglicherweise die beste Lösung. Sofern
Vietnam "das Konzept des Entschlusses zur Lüge" verfolgen
sollte, könnte Deutschland die Beweise für die Straftat herausgeben. Wenn
Vietnam aber unbeeindruckt auf seiner Argumentation beharrt, was könnte man da
tun? Wenn man das hässliche Vorgehen der kommunistischen Regierung anklagt,
wird die deutsche Bevölkerung abwinken und sagen "das wissen wir doch,
furchtbar, immer das gleiche Thema!". Eine ökonomische Strafe betrifft
beide Seiten, und sie verschlechtert die Situation der friedlichen, unschuldigen
Bevölkerung. Habgierige Bürokraten dagegen verspüren weiterhin ein angenehmes
Lüftchen, denn das Volkseigentum ist für sie eine unerschöpfliche
Bereicherungsquelle. Am Ende wird man sich doch einigen müssen, um weiter
zusammen zu arbeiten. Wenn aber Vietnam seinen Fehler anerkennen würde und
einverstanden wäre, dass "Trịnh Xuân Thanh sofort nach Deutschland
zurückkehren kann", dann müsste man die Folgen tragen, die in Teil IV.3.d
beschrieben wurden.
Deutschland hat also das
Auslieferungsersuchen nach Vietnam gegen TXT deshalb nicht oder noch nicht
akzeptiert, weil man befürchtet, dass TXT dort kein faires, rechtsstaatliches
Verfahren erhält, was realistisch ist. Wenn aber das "Konzept des
gemeinsamen Sieges" unter Beobachtung durch Vertreter der deutschen
Regierung, mit Verteidigung durch deutsche Anwälte und unter Zeugenschaft der
deutschen Presse gewählt würde, dann würde die Möglichkeit, dass TXT in einem
fairen Verfahren verurteilt wird, deutlich steigen. Und wenn TXT dieses faire
Verfahren doch nicht erhielte, dann bewiese das auf eindrückliche Weise, dass
die Befürchtungen der deutschen Seite richtig waren. Aus diesem Grund könnte
Vietnam die Nicht- oder noch-nicht-Auslieferung nicht als Argument zur
Rechtfertigung der Entführung anbringen. Das bedeutete, der Vorwurf und die
Anklage der deutschen Regierung träfen ganz und gar zu.
Man könnte die Anwesenheit der deutschen
Seite bei dem Gerichtsprozess gegen TXT in Hanoi als einen besonderen Sieg der
deutschen Regierung betrachten, da die vietnamesische Regierung noch niemals
eine solche „Einmischung“ akzeptiert hat. Auf diese Weise könnte man dazu
beitragen, einen Modellprozess nach den Prinzipien eines wahrhaften Rechtsstaates
durchzuführen, etwas, das in Vietnam noch vollkommen fremd ist. Und diesen
könnte man als ersten Anstoß nehmen, die fortschrittlichen Kräfte in Vietnam
zur Realisierung wirklicher Reformen zu stärken, um so einen tatsächlichen
Rechtsstaat zu schaffen.
Solche vorbildlichen Modellprozesse regen
nicht nur Veränderungen im Gerichtswesen an, sie zwingen auch die
Ermittlungsbehörden und die Staatsanwaltschaften sich einer ernsthaften
Selbstbefragung zu unterziehen, um nicht wiederum die alteingeübten, zur
Gewohnheit gewordenen, falschen Ermittlungs- und Anklagemethoden zur Schau zu
stellen. Wenn das System aus Ermittlungen – Anklage – Verhandlung in
progressiver Weise verändert würde, hätte das positive Auswirkungen auf die
Gestaltung einer wahrhaft demokratischen, gerechten, zivilisierten
Gesellschaft, die nicht mehr nur eine provokante Floskel wäre.
Wenn sich der Prozess gegen TXT als
Ausgangspunkt für eine solch positive Reformierung des Rechtssystems nutzen
ließe, dann wäre die Unterstützung des vietnamesischen Volkes durch die
deutsche Regierung in diesem Falle wahrscheinlich um einiges wirkungsvoller als
alle Unterstützungsmaßnahmen der Vergangenheit. Das wäre ein Erfolg ungeahnten
Ausmaßes.
IV.4.c. Solange die
deutschen Rechtsanwälte die Verteidigung von TXT gegen die Auslieferung und
für die Anerkennung als politischer Flüchtling auf deutschem Territorium
betrieben, konnten sie sicher sein, dass sie gewinnen würden. Da das Ergebnis
so eindeutig gewesen wäre, hätte man es nicht als großen Erfolg der Anwälte
werten können. Wenn aber die Verteidigung in Vietnam erfolgt, dann ist allein
die Tatsache, dass deutsche Anwälte ihr Plädoyer vor einem Gericht der SR
Vietnam halten, ein großer Erfolg. Mehr noch, ihre Verantwortung läge allein
darin, zu erreichen, dass TXT nicht gesetzwidrig verurteilt wird. Wenn ihnen
das gelänge, hätten sie einen einmaligen, grandiosen Sieg errungen. Wenn
dagegen ein ungerechtes Urteil gegen TXT gefällt würde, dann wäre das für die
Öffentlichkeit nichts Neues, und niemand würde die Anwälte dafür verantwortlich
machen.
Allerdings müsste die deutsche Seite die
Bestimmungen des vietnamesischen Rechtes zum Verteidiger genau studieren (siehe
Anhang), wenn die deutschen Anwälte nicht 8500 km Flugstrecke zurücklegen
sollen, nur um vor dem Tor des Gerichtsgebäudes zu stehen, in dem der Prozess
verhandelt wird, so wie es dem Mitglied des Deutschen Bundestages Martin
Patzelt beim Besuch der Berufungsverhandlung gegen Nguyễn Hữu Vinh und Nguyễn
Thị Minh Thúy am 23.9.2016 ging.
IV.4.d. Der Entführerring
läuft Gefahr, angeklagt zu werden wegen
"Spionagetätigkeit" (Artikel 99 StGB) und
"Freiheitsentzug" (Artikel 239 StGB). Wenn
Vietnam sich für das "Konzept der Lüge" entscheiden sollte, müsste
Deutschland bis zum Äußersten gehen und notfalls vor dem internationalen
Gerichtshof Klage erheben. Sofern Vietnam einverstanden wäre, "Trịnh
Xuân Thanh unverzüglich nach Deutschland zurückreisen" zu lassen, würde
TXT den gesamten Verlauf der Entführung schildern, was noch um vieles
gefährlicher wäre. Daher ist das "Konzept des gemeinsamen Sieges"
eindeutig das beste, denn nach diesem ist der Entführerring durch Vietnam am
sichersten geschützt.
IV.4.e. Die
Sympathisanten können bei Wahl des "Konzepts der Lüge" für
einige Zeit weiterhin in einer Atmosphäre der begeisterten Unterstützung leben.
Sobald dann aber die Machthaber das Haupt neigen müssen, werden sie ihre
Kampflieder nicht mehr anstimmen können. Wenn "Trịnh Xuân Thanh unverzüglich
nach Deutschland zurückreisen" könnte, wäre das eine große Beschämung
für sie. Deshalb wäre nur die Akzeptanz des "Konzepts des gemeinsamen
Sieges", ein gemeinsamer Sieg.
IV.4.f. Die
vietnamesische Bevölkerung treibt gegenwärtig vor allem die Frage um: Kann
man erfolgreich gegen die Korruption vorgehen in einem System, in dem die
Korruption zu einem Wesenszug geworden ist, das von einem metastasierenden
Krebs im letzten Stadium befallen zu sein scheint? Wenn das nicht möglich ist,
dann ist jeder Kampf ohne Nutzen, und die Erfolgswahrscheinlichkeit ähnelt der
einer Operation am Krebskranken, der bereits Metastasen aufweist.
Machtkampf und Säuberungsaktionen gegenüber
einzelnen Fraktionen sind in der Politik üblich. In einem Einparteiensystem hat
der Machtkampf unter den einzelnen Fraktionen auch einen positiven Effekt, weil
die Politiker sich auf diese Weise gegenseitig anklagen und in Schach halten.
Wenn aber die Macht sich ganz in einer Hand befände, die politisch Handelnden
sich in vollkommener Übereinstimmung befänden, in korruptem Wetteifern, im
Vertuschen von Landraub… dann ginge es der Bevölkerung noch
weitaus schlechter.
TXT? Natürlich sollte einer wie er
abgeurteilt werden. Aber wenn er es verdient, 10.000 Mal verurteilt zu werden, sollte
man ihm doch nur einmal den Prozess machen. Um die 9.999 anderen Male für die 9.999
anderen Genossen zu sparen. Wir sollten die Lehre nicht vergessen: "Zu
fürchten ist nicht der Mangel, sondern die ungleiche Verteilung."
Einer Schlange wagt man nicht, den Kopf
abzuschlagen. Wenn man Blutegel zweiteilt, wird das sie weder vernichten noch
töten. Jeder Schwerthieb wird weitere Blutegel erzeugen, was hat man davon?
Deshalb soll das Ergreifen TXTs nicht als großartiges Ereignis betrachtet
werden. Und der Prozesstag gegen TXT sollte nicht wie ein Fest gefeiert werden.
Wenn aber "Trịnh Xuân Thanh unverzüglich
nach Deutschland zurückreisen" könnte und dann politisches Asyl in
Deutschland erhielte, würde das vietnamesische Funktionäre darin bestärken, in
aller Ruhe ihren korrupten Geschäften zum Schaden des Volkes nachzugehen und,
wenn die Geschäfte auffliegen, sich ins Ausland abzusetzen und dort abzuwarten,
bis ihre Chance zurückkommen würde.
Ganz sicher befürwortet der größte Teil der
Bevölkerung eine Verurteilung von TXT. Aber die Verurteilung muss fair
erfolgen, durch ein ernstzunehmendes Gericht, in Befolgung der Gesetze, und
nicht durch einen willigen Vollstrecker des "Siegers der Geschichte",
der aufgefahren wird, um einen politischen Gegner zur Strecke zu bringen. Eindeutig
ist das "Konzept des gemeinsamen Sieges" zum Erreichen dieses
Zieles am besten angebracht.
Wenn der am Ende von Teil IV.4.b beschriebene
Traum Realität werden sollte, dann wird das System von Ermittlungen – Anklage –
Gerichtsverhandlung ein anständiges werden. Es wird den Zustand beenden, dass
Verdächtige auf dem Polizeirevier "Suizid begehen" oder "sich
selbst züchtigen" und Hämatome am Körper verursachen. Dank dieser
Veränderung wird Mẹ Nấm - Nguyễn Ngọc Như Quỳnh in 10 Jahren, wenn sie aus der
Haft entlassen wird, keine Gelegenheit mehr haben, Material zu sammeln, um sich
zum wiederholten Male durch "Propaganda gegen die Sozialistische
Republik Vietnam" strafbar zu machen. Und wenn die Gerichte dann
tatsächlich die richtigen Anklagen gegen die richtigen Personen verhandeln,
dann wird womöglich die Korruption nicht mehr so grassieren wie in Zeiten, da
der Kampf "gegen die Korruption schwierig
ist, da wir auf die eigenen Reihen einschlagen müssen".
Wenn "das Leben ach so schön"
ist, dann ist der größte Sieg der Gewinn des Volkes. Man wird sich erinnern,
tausende Menschen werden denen dankbar sein, die sich gemeinsam für einen "gemeinsamen
Sieg" eingesetzt haben. Und wer weiß, womöglich wird man gar TXT und
dem Entführerring dankbar sein, weil sie die Gelegenheit eröffnet haben, eine win-win-Situation
herzustellen.
Das heißt, nach dem "Konzept des
gemeinsamen Sieges" "siegen" sogar alle 5 Seiten. Deshalb
sollten wir statt "win-win" vielleicht "win-win-win-win-win"
schreiben, um die Freude über den "gemeinsamen Sieg" angemessen
auszudrücken.
IV.5. Zusammengefasst ist zu sagen, wenn
es eine Entführung von TXT inmitten Berlins nicht gegeben haben sollte, dann
müsste Vietnam natürlich das "Konzept des Entschlusses zur
Ehrlichkeit" verfolgen. Wie in Teil IV.1 dargelegt wäre damit die
deutsche Seite und die öffentliche Meinung kaum zu überzeugen.
Wenn die Entführung von TXT wahr ist, bieten
sich 3 Varianten zur Umsetzung an. Das erste ist das "Konzept,
entschlossen zu lügen". Wie in Teil IV.2 dargelegt, werden die
Machthabenden in Hanoi trotz ihrer besonderen Stärke und ihrer reichen
Erfahrung auf diesem Gebiet schwerlich die Anschuldigungen aus Berlin
widerlegen können. Am Ende wird alles ans Tageslicht kommen.
Das zweite ist das "Konzept des
Entschlusses zur Ehrlichkeit", dem in Teil IV.3 nachgegangen wurde.
Nach diesem Konzept gesteht die vietnamesische Seite ihren Fehler ein und
bittet dafür rückhaltlos um Entschuldigung, gleichzeitig akzeptiert sie die
Forderungen der bundesdeutschen Regierung und lässt "TXT unverzüglich
nach Deutschland zurückkehren, damit sowohl das Auslieferungsersuchen als auch
der Asylantrag gemäß der gesetzlichen Vorgaben geprüft und abschließend
entschieden werden können". Das ist der Weg, den die
vietnamesische Seite eigentlich akzeptieren müsste, der aber schwer zu
akzeptieren ist. Wenn man ihn ginge, wäre die deutsche Seite zufrieden, aber "das
Glück wird von kurzer Dauer sein", da der Umgang mit dem Fall TXT
schwierig ist.
Das dritte ist das "Konzept des
gemeinsamen Sieges", das in Teil IV.4 beleuchtet wurde. Nach
dieser Variante erkennt die vietnamesische Seite wiederum ihren
Fehler an und entschuldigt sich, aber sie lässt TXT nicht "unverzüglich
nach Deutschland zurückreisen". Stattdessen sagt die
vietnamesische Seite zu, TXT recht bald in Vietnam den Prozess zu machen, unter
Beobachtung durch Vertreter der deutschen Regierung, unter Teilnahme von
deutschen Anwälten am Prozess und unter der Zeugenschaft und Berichterstattung
durch die deutsche Presse. Normalerweise wird die vietnamesische Seite
solche Bedingungen nicht akzeptieren, weil das den heiligen Wert der
Souveränität des vietnamesischen Staates verletzen würde. Da man aber gerade
erst selbst die Souveränität Deutschlands verletzt hat, wäre eine solche
Argumentation wie ein Schlag ins eigene Gesicht. Dieser Weg ist nicht nur
realistisch, sondern besonders bemerkenswert ist, dass nach diesem Konzept alle
5 Seiten gemeinsam siegen. Das sind die Regierung Vietnams (IV.4.a), die Regierung
Deutschlands (IV.4.b), die deutschen Anwälte (IV.4.c), der Entführerring
(IV.4.d), der Block der Sympathisanten (IV.4.e), und insbesondere das
vietnamesische Volk (IV.4.f).
V. Wichtige Eckpunkte
V.1. Korruptionsbekämpfung
Korruption knechtet die Bevölkerung
und zerstört das Land, sie tat dies in der Vergangenheit und wird es auch in
Zukunft tun, und die Folgen werden Jahrhunderte
überdauern. Deshalb müssen wir selbstverständlich entschlossen
dagegen vorgehen.
In einem Rechtsstaat kann
Korruptionsbekämpfung nicht auf der Grundlage von Antipathie oder Neid
erfolgen, sondern sie muss auf geltendem Recht basieren: Korruption ist
ungesetzliches Handeln. Man kann ungesetzliches Handeln nicht mit
ungesetzlichen Mitteln bekämpfen. Deshalb muss jede Maßnahme gegen
Korruption im gesetzlichen Rahmen und entsprechend der gesetzlichen
Bestimmungen durchgeführt werden.
Wer die Macht in Händen hält und ungesetzlich
handelt, ist in juristischer Hinsicht dem korrupten Menschen in nichts
überlegen. Mehr noch, grob widerrechtliches Vorgehen wird die
Bevölkerung zu der Frage veranlassen: Sind dieser Art Leute moralisch
berechtigt, als Kämpfer gegen die Korruption aufzutreten? Und gehen sie
tatsächlich gegen Korruption vor, oder entledigen sie sich nur im Namen der
Korruptionsbekämpfung ihrer Gegner, um in deren korrupten Fußstapfen weiter zu
marschieren und die daraus erzielten Anteile neu aufzuteilen?
Wenn die Zweifel in der Öffentlichkeit
beseitigt werden sollen, müssen unverzüglich eine Reihe von einfachen Fällen
geklärt werden. Viele Missetäter halten sich ganz unbekümmert in Vietnam auf,
ja, sie bekleiden öffentliche Funktionen. Warum werden die nicht festgenommen,
sondern ihre Fälle auf die lange Bank geschoben? Stattdessen konzentriert man
sich darauf, mit allen Mitteln eines Mannes habhaft zu werden, der ins Ausland
geflohen ist? Wenn ein ehrliches Bestreben gezeigt werden soll, gegen
Korruption vorzugehen, dann muss man die einfachen Dinge zuerst tun, was
bedeutet, sich die Schädlinge in den eigenen Reihen zuerst vorzunehmen. Das ist
einfach, weil es keinen Widerstand aus den anderen Fraktionen geben wird,
sondern man noch den angenehmen Ruf des "gerechten Herrschers" erwerben
wird. Der Grad der Korruption unterscheidet sich kaum. Sowieso werden
Sondermaschinen-Berechtigten straflos bleiben. Aber Fluggäste der ersten
Klasse, der Businessklasse und der Economy-Klasse, die gibt es doch in jeder
Fraktion.
V.2. Der Fall TXT
Sofern TXT tatsächlich aus Berlin entführt
wurde, um ihn nach Hanoi zu bringen, damit er dort "ein Geständnis
ablegt", so ist das absolut inakzeptabel. Ein solches Vorgehen stellt
eine ernsthafte Verletzung des deutschen, des internationalen aber auch des
vietnamesischen Rechts dar. Deshalb kann eine solche Handlung nicht als
Maßnahme der Korruptionsbekämpfung angesehen werden. Es gibt keine
Rechtfertigung für ein solch anmaßendes Agieren.
In diesem Falle bestünde die vernünftigste
Wiedergutmachung darin, den Fehler schnellstens zuzugeben, eine aufrichtige
Entschuldigung gegenüber Deutschland auszusprechen und in Gesprächen mit
Deutschland die beste Lösung für beide Seiten herauszufinden, nicht nur, um die
negativen Folgen zu überwinden, sondern auch, um in Zukunft effektiv
zusammenzuarbeiten.
Wenn jemand sein persönliches Ansehen über
die Selbstachtung des Volkes, über die Interessen des Staates stellt und
versucht, die Wahrheit zu leugnen oder diese zu lange zurückzuhalten, kann das
ungeheure, nicht vorauszusehende Folgen nach sich ziehen. Dann wird sich die
Öffentlichkeit die Frage stellen müssen: Wer trägt hinsichtlich des
entstandenen Schadens für unser Volk, für unser Land größere Schuld, TXT oder
der Entführerring? Und wenn die Korruptionsbekämpfung mit einem noch größeren
Schaden einhergeht als die Korruption selbst, wozu dann der Kampf?
Bei der Lösung des Problems um TXT ist zu
beachten: Die gegenwärtigen Irritationen betreffen nicht nur die Beziehungen
zwischen der deutschen und der vietnamesischen Regierung, sondern auch die
zwischen den deutschen Anwälten von TXT und der deutschen Regierung sowie
zwischen den deutschen Anwälten und der vietnamesischen Regierung. Rechtsanwälte
in Vietnam können von den Regierenden zum Gehorsam gezwungen werden, die
Rechtsanwälte in Deutschland dagegen folgen ausschließlich dem deutschen Recht.
Die deutsche Regierung hat keine Gewalt über sie. Die deutsche Regierung kann
mit der vietnamesischen Regierung Vereinbarungen treffen, ihr entgegen kommen,
wenn aber diese Vereinbarungen das deutsche Recht verletzen, wird die deutsche
Anwaltschaft das nicht hinnehmen. In Deutschland ist es möglich, dass ein
Anwalt ein Gerichtsverfahren gegen die Regierung gewinnt, das bringt ihm viel
Ruhm und dem Berufsstand einen guten Ruf ein. Das lässt sich nicht einfach
übergehen. Die deutsche Regierung kann in Bezug auf verschiedene Ziele und
Interessen Kompromisse eingehen. Die deutschen Anwälte von TXT haben aber nur
ein einziges Ziel, das an ihre eigenen Interessen geknüpft ist, das ist der
Sieg in diesem Verfahren. Daher ist der Faktor der deutschen Anwälte in jede
Überlegung einzubeziehen.
V.3. An die Öffentlichkeit
Im Verfahren TXT hat die deutsche Regierung
den Bestimmungen des deutschen Rechts und den Prinzipien eines Rechtsstaates
entsprechend gehandelt. Deshalb kann man die Tatsache, dass Deutschland dem
Auslieferungsersuchen Vietnams gegen TXT nicht nachgekommen ist, nicht als
Argument anführen, um "den präzedenzlosen und eklatanten Verstoß gegen
deutsches Recht und gegen das Völkerrecht" zu rechtfertigen. Man muss
verstehen, dass die erboste und unerbittliche Reaktion Deutschlands vollkommen
gerechtfertigt ist.
Wenn jemand die Vorgehensweise und die
Reaktion der deutschen Seite im Fall TXT nicht versteht, soll er sich durch
Studien und Recherchen um ein Verständnis bemühen, um die rechtliche Grundlage
dieser Vorgehensweise zu begreifen. Er soll nicht zu selbstbewusst sein in
Bezug auf die eigenen Kenntnisse, sich nicht im Bunker seines Denkens
verstecken und bedenkenlos unsinnige Kritiken herausschießen. Und er soll nicht
vergessen: Die Angelegenheit hat sich auf deutschem Territorium ereignet, es
galt also deutsches Recht, und nicht das "Gesetz des Dschungels".
Die unvoreingenommene Unterstützung des
Kampfes gegen Korruption ist gut und richtig. Aber man muss mit klarem Verstand
agieren, um das Wesen eines jeden Gefechts und die Angemessenheit einer jeden
Maßnahme zu erkennen. Es ist ähnlich wie bei einem Fußballspiel: man muss
zumindest auseinanderhalten können, welche Mannschaft gegen welche spielt und
auf welche Weise. Man kann nicht, sobald das Spiel beginnt, in begeistertes
Schreien ausbrechen, ohne darauf zu achten, ob dort der Fußball oder ein
Spieler getreten wird, um dann zu schimpfen, wenn der Schiedsrichter die rote
Karte zieht.
Anhang
Einige Dinge, die Deutschland
hinsichtlich der Verteidiger beachten muss
Um unter den andersartigen Umständen
erfolgreich zu sein, sollte die deutsche Regierung ein angemessenes Verteidigerteam
zusammenstellen. Natürlich können die deutschen Anwälte, die TXT beauftragt
hat, wie zum Beispiel Frau Petra Isabel Schlagenhauf und Herr Victor Pfaff, diesem
Team angehören. Aber es sollten einige Anwälte dazukommen, die sich auskennen
und Erfahrungen haben mit einem Verhandlungsumfeld, das dem Vietnams ähnelt.
Darüberhinaus sollte die deutsche Seite im Verlauf der Absprachen darauf
achten, dass die vietnamesische Seite die Mitglieder des deutschen
Verteidigerteams als "Verteidiger" von TXT im Sinne der
Bestimmungen der Strafprozessordnung
Nummer 101/2015/QH13 anerkennt.
Es
ist zu achten auf die Bestimmungen des Artikels 72 Absatz 1 Strafprozessordnung:
"Der
Verteidiger ist eine vom Beschuldigten beauftragte oder von dem für die
Prozessführung zuständigen Staatsorgan bestellte Person ..."
Man muss wissen, dass in Vietnam der
Beschuldigte bzw. der Angeklagte oft gezwungen wird, einen Anwalt schriftlich
abzulehnen. Deshalb sollte, wenn ein Verteidiger auf diese Weise von TXT
abgelehnt wurde, die deutsche Seite von der vietnamesischen Seite verlangen,
diesen aufzunehmen unter "vom prozessführenden Staatsorgan bestellt".
Darüber
hinaus ist zu achten auf die Festlegungen des Artikel 72 Absatz 2 Strafprozessordnung,
zu den Personen, die als Verteidiger auftreten können. Das sind:
"a)
Rechtsanwälte;
b) Vertreter
des Beschuldigten;
c)
Verteidiger des Volkes …"
Man sollte nicht einfach annehmen, die
von Deutschland eingesetzten Verteidiger seien alle Anwälte und fielen daher
unter die Kategorie der "Rechtsanwälte". Sie sind nur nach der
deutschen Norm "Anwälte". In Vietnam gehört nach dem Rechtsanwaltsgesetz
Nummer 65/2006/QH11, zu den "Anforderungen an
Rechtsanwälte", dass sie "dem Vaterland treu dienende
vietnamesische Staatsbürger" sind (Artikel 10), und nach den "Bedingungen
für die Ausübung des Anwaltsberufes" müssen sie "über eine
Zulassung als Rechtsanwalt verfügen und Mitglied einer Anwaltskammer sein"
(Artikel 10). Es dürfte schwer sein, einen deutschen Anwalt zu finden, der diese
Bedingungen erfüllt, "vietnamesischer Staatsbürger" ist, über
eine "Zulassung als Rechtsanwalt" (von Vietnam) verfügt und "Mitglied
einer Rechtsanwaltskammer" (von Vietnam) ist.
Die deutschen Anwälte unter der
Kategorie "Verteidiger des Volkes" aufzustellen ist auch nicht
möglich, da nach Artikel 72 Absatz 3 "Verteidiger des Volkes
vietnamesische Staatsbürger sind, … die durch das Komitee der Nationalen Front
Vietnams oder durch eine von deren Mitgliedsorganisationen ausgewählt werden ...".
Daher muss die deutsche Seite, wenn sich
keine andere Möglichkeit mehr bietet, von der vietnamesischen Seite
verlangen anzuerkennen, dass die Mitglieder des deutschen
Verteidigerteams der verbleibenden Kategorie angehören, nämlich der der "Vertreter
des Beschuldigten".
Wenn über die Verteidiger keine
konkreten Absprachen getroffen werden, kann es passieren, dass man sich in
einer Situation wiederfindet, in der man hinters Licht geführt wurde. Zum
Beispiel: Wenn die deutschen Rechtsanwälte den Verhandlungsraum betreten
wollen, könnten sie nach Kontrolle ihrer Papiere daran gehindert werden mit der
Begründung, dass sie die Kriterien an einen Verteidiger nach den Bestimmungen
des vietnamesischen Rechts nicht erfüllen. Bis das Auswärtige Amt der BRD sich
in dieser Sache einschalten kann, ist der Prozess schon abgeschlossen, da
Gerichtsverhandlungen in Vietnam innerhalb eines Tages abgeschlossen werden
können und nicht, wie in Deutschland, monate- oder gar jahrelang dauern.
21. August 2017